Auf dem Rückweg von einem Gesprächskreis, auf dem wir – ein Dutzend Personen vielleicht – über einige Thesen des Philosophen Leo Isaakowitsch Schestow (1866-1938) grübelten, durchquerte mein Zug in den Schwarzwald das Murgtal. Beim Blick aus dem Fenster reihte sich Berg an Berg, Hügel an Hügel, Baum an Baum; dazwischen Ortschaften und Gehöfte, alle einander sehr ähnlich, aber kein Element glich dem nächsten. Und doch ergab sich aus ihrer Anordnung ein harmonisches Ganzes, schienen die zu Ketten gereihten Hügel oder Häuser einem Rhythmus zu folgen beziehungsweise ein Muster zu formen. Worin die Gesetzmäßigkeit genau besteht, könnte ich nicht sagen. Ich weiß nur, sie ist da. Natürlich ist sie da. Es ist offensichtlich. Womöglich ließe sich nach Betrachtung der in topographischen Karten festgehaltenen Maße sogar eine mathematische Formel errechnen, die die klar wahrnehmbare Harmonie in dieser Landschaft auf einige wenige Zeichen herunterbricht: zn+1=zn² + c oder derlei. Ich bin mir fast sicher, dass dies bereits unternommen wurde.
Schestow wehrte sich gegen solche Unterfangen. Dieses rationale Erfassen des Lebendigen und seiner Äußerungen war ihm zuwider. Die Phänomene dieser Welt erschienen ihm als Wunder, denen mit Mitteln der Vernunft nicht beizukommen wäre. Er lehnte es ab, das Individuelle, Einzigartige, Singuläre in Kategorien zu pressen, die sich leicht berechnen oder manipulieren lassen. Wenn es eine Chance gebe, dem „grauenhaft Entsetzlichen,“ dem „wilden Wahn“ menschlicher Existenz zu entkommen, so liege diese nicht im rationalen Verstand mit seinen techno/logischen Lösungen begründet, sondern in der Hoffnung.
In seiner Kant-kritischen Kritik der reinen Vernunft, wenn man seine Gedankengänge einmal so nennen will, geht Schestow so weit, alles anzuzweifeln, das unserem Intellekt „natürlich“, „selbstverständlich“ und „logisch“ erscheint, einschließlich des Todes. Denn womöglich, so meint er, sind die Phänomene, die wir wahrnehmen, ein Produkt unseres Geistes. Von der Endgültigkeit verstandesgemäßer Gewissheiten fühlte er sich in Verzweiflung und Wahnsinn getrieben. Er fand, es gebe keinen Grund, der Natur bei ihrem grausamen Geschäft auch noch zu helfen. Wunder werden möglich, indem wir an sie glauben, nicht, indem wir einem Problem rational zuleibe rücken.
Sind also die Naturgesetze reine Geisteskonstrukte? Erkennen wir Notwendigkeiten, weil wir sie zu sehen wünschen? Ist die Harmonie, die ich in der Abfolge der Schwarzwaldhügel wahrnehme, Einbildung? Der Tod, der einem jeden Leben ein Ende bereitet, ein Wahn? Und auch der Apfel, der nie weit vom Stamm fällt?
Ich bin nicht sicher, ob sich diese Fragen abschließend klären lassen. Wenn über die Jahrtausende berichtet wird – und wir jeden Tag selbst sehen –, dass ein seines Haltes entledigter Gegenstand senkrecht zu Boden fällt, dürfen wir dann ein Gesetz vermuten oder gar formulieren, dem er folgt? Verstehen wir genug, um das zu unternehmen? Ich meine, man könnte wohl sagen, dass das Gesetz objektiv existiert und wirkt, unabhängig davon, wie wir es subjektiv formulieren. Trotzdem scheint es immer wieder möglich zu sein, durch Wunder, Glaube, Wunsch, Willenskraft oder Tat den gewohnten Gang der Dinge zu verändern. Wie verhalten sich Freiheit und Gesetzmäßigkeit zueinander? Lassen sie sich zusammenbringen?
Hier möchte ich mit einem klaren Ja antworten. Hinter den von uns beobachteten Mustern im Gefüge des Universums und den Abläufen im Verhältnis zwischen den Kräften in ihm steht ein Gesetz. Es ist weder willkürlich noch veränderbar und kann auch nicht gebrochen werden. Es hat mit von Menschen postulierten Gesetzen nichts gemein. Es gibt lediglich die Daseinsbedingungen vor: zum Beispiel die des Apfelbaums und seiner Frucht. Wann die Frucht den Baum verlässt, mag in der freien Entscheidung des Baumes liegen, aber davonzufliegen ist darin nicht vorgesehen. Freiheit genießen Frucht und Baum nur im Rahmen ihrer körperlichen und Mitwelt-Bedingungen.
Gleiches gilt auch für die menschliche Domäne – vor allem hier, wenn man daran glauben will, dass der menschliche Verstand dem seiner Mitgeschöpfe überlegen ist. Harmonie entsteht, wenn unser Denken, Wünschen, Glauben, Fühlen, Wollen und Tun in Einklang mit natürlichen Gesetzen kommt. Wir verwirklichen unsere Freiheit im Rahmen der natürlichen Gegebenheiten, nicht gegen sie. Freiheit kann man daher auch als Freiheit von unsinnigem Frei-sein-Wollen vom Naturgesetz betrachten. In der Musik beispielsweise sind unendlich viele Tonkombinationen möglich, doch die Grenze von kakophonem Lärm zu harmonischer Musik überschreitet man erst, wenn man gewisse Gesetzmäßigkeiten beachtet. Die Regeln, die es zu befolgen gilt, wenn man eine Sinfonie schreiben möchte, sind relativ schlicht. Doch die Freiheiten, die man innerhalb dieser Regeln genießt, erlaubten Beethoven, neun verschiedene Meisterwerke zu kreieren, und zahlreichen weiteren Komponisten unzählige weitere.
Und auch im Naturrecht finden wir diese Dynamik zwischen unabänderlichem Gesetz und Freiheit. Im Rahmen unserer körperlichen, geistigen, seelischen und Mitwelt-Bedingungen sind wir völlig frei in der Gestaltung unseres Daseins; die dem Universum innewohnenden Gesetze regeln die Konsequenzen. Wir sind so frei, die Schwerkraft für durch reinen Willen überwindbar zu halten und erfahren beim Sturz etwas über unsinnige Freiheitsbegriffe. Wir sind so frei, unseren Nächsten Schaden zuzufügen, doch auch dies wird Folgen haben, teils zeitnah für uns selbst, teils auf Umwegen über größere Räume und Zeitspannen hinweg und hauptsächlich für die Gemeinschaft, wie uns die Geschichte lehrt.
Die „Natur“ beziehungsweise der Schöpfer des Universums hat das Naturgesetz nicht in gedruckten Verlautbarungen und Manifesten veröffentlicht, denn das war nicht nötig. Wir und alle anderen Geschöpfe sind mit der Fähigkeit und der Freiheit ausgestattet, die Welt, in der wir leben, zu erkennen und in ihr erfolgreich zu navigieren, trotz all ihrer Komplexität. Unsere Versuche, sie in Worte zu fassen oder in Formeln nachzubilden, reduzieren diese Komplexität notwendig auf vereinfachende Darstellungen. Unsere Beschreibungen des natürlichen Gesetzes sind mit Vorsicht zu genießen, denn sie sind geprägt von kulturellen Einflüssen auf unsere Wahrnehmung. Aber die Muster, von denen sie erzählen, treten, soweit wir Wahrnehmungen über Zeit und Raum vergleichen können, universell in Erscheinung. Sie rufen dazu auf, erkannt und auf lebendige Weise – mit Herz und Verstand – nachgeahmt zu werden, auf dass Harmonie einkehre.
Und was ist mit Schestow? Was ist mit Wundern? Nun, da dürfte es einen wahren Kern geben. Zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit liegt jedenfalls keine Einbahnstraße. Es scheinen engere Bindungen zwischen ihnen zu bestehen, als die Schulweisheit uns meinen lässt. Aber letztlich ging es Schestow, wenn ich es recht verstanden habe, nicht so sehr um die Wirkmächtigkeit von Wundern als um die Freiheit, sein Dasein nach anderen Gesichtspunkten als kalter Rationalität zu gestalten. Das mag mancher für dumm halten, aber es war sein gutes Recht. Jede Handlung, die keinen Schaden gegen andere initiiert, ist ein Recht, und kein Priester, keine Mehrheit, kein Richter kann daran etwas ändern.
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