Überlegungen zur Natur des Bösen
Auroville & das Naturrecht, Teil 4/4
In Anbetracht der zur Wahrheit erhobenen Lüge, des allumfassenden Unrechts, ja des kollektiven Wahnsinns, den die letzten paar Jahre uns vor Augen geführt haben, fehlen manchen Beobachtern die Worte. Was ist es, das uns da plagt? Ist es nicht das abgrundtief … Böse? Unseren Ahnen wäre dieser Ausdruck ohne Zögern von den Lippen gekommen, doch wir Heutigen, wir haben ein Problem damit. Warum eigentlich? Liegt es vielleicht daran, dass man das Böse irgendwie mit Religion verbindet? Dass man es zusammen mit Gott ins Reich der Märchen verschiebt? Das Böse ist leider kein bloßer Gegenstand religiösen Glaubens – und dies hier ist auch kein religiöses Traktat –, aber wir finden in heiligen Schriften diverser Kulturen den Schlüssel zu seiner Beendigung.
Am heutigen 15. August 2022 jährt sich der Geburtstag von Sri Aurobindo zum 150. Mal. Der indische Freiheitskämpfer, Philosoph und Yogi begründete zusammen mit seiner Weggefährtin Mirra Alfassa einen Ashram im südindischen Pondicherry. Dort entwickelte er seinen „integralen Yoga“, eine Denkschule, die die Integration der materiellen, geistigen und spirituellen Anteile menschlichen Seins anstrebt. Anlass für diese Bemühungen war die nach dem ersten Weltkrieg immer deutlicher zutage tretende Zivilisationskrise, einer Anhäufung und Zuspitzung von Dysfunktionen im System, die auf einen katastrophalen Zusammenbruch hinauslaufen. Aurobindo und Alfassa waren weder die Ersten noch die Einzigen, die darauf aufmerksam zu machen beziehungsweise ihm entgegenzuwirken versuchten, aber sie gehörten in ihrer Zeit zu den Wenigen, die den Ursprung der Krise in der inneren Haltung, ja sogar in einem Mangel an Bewusstsein im Menschen verorteten.
Ziel des Ashrams, und ab 1968 auch der Stadtgründung Auroville, sollte es sein, den menschlichen Leib für die Aufnahme des höchsten Bewusstseins vorzubereiten und die dazugehörige Daseinsweise, diesen Integralen Yoga, im Alltag zu leben. Für die baulichen Aspekte Aurovilles machte Alfassa – „die Mutter“ – zwar Vorgaben, jedoch nur unter dem für sie üblichen Vorbehalt, dass die Einzelheiten erst im Licht fortschreitender Erkenntnisse festzulegen seien. In der ab dem 2. Dezember 2021 erfolgenden Übernahme der Stadt durch von der indischen Regierung eingesetzte Verwaltungsbeamte benutzte die Auroville-Stiftung solche Vorgaben für die Entrechtung der Einwohner, angeblich um den beschleunigten Bau der Stadt durchzusetzen. Entspräche dies der Wahrheit, würde die Stiftungsleitung die unabdingbaren naturrechtlichen Voraussetzungen des integralen Yogas opfern, um sein bauliches Gefäß möglichst schnell – mit brachialer Gewalt – aus dem Boden zu stampfen.
Man darf jedoch davon ausgehen, dass es sich bei den vorgeblichen Motiven um eine Lüge handelt, denn die leitende Sekretärin der Auroville-Stiftung und ihre Anhänger spielten bei jedem einzelnen Zusammenstoß mit den Einwohnern Aurovilles ein falsches Spiel, während sie vorgaben, legal, rechtmäßig, rechtschaffen, moralisch korrekt und von den Worten der Mutter gedeckt zu handeln. Wären das Recht, die Moral und Mutters Segen auf ihrer Seite, hätte es für Täuschungsmanöver jedoch keinen Grund gegeben. Der Journalist Ashish Kothari schrieb daher schon früh:
„Bulldozer, die nachts um ein Uhr Bäume zu Fall bringen und Gebäude bedrohen – solcherlei Handeln kann nur von einer Quelle herrühren, die keinerlei Legitimität hat, bei Tageslicht zu arbeiten.“
Ach, wäre doch nur jedem von uns solch erstaunliche Klarsicht gegeben, es wäre der Kapertruppe weit weniger leicht gelungen, durch Misinformationen und pseudolegale Überraschungsangriffe Durcheinander zu erzeugen. Wir müssen uns abgewöhnen, von dieser Art Gewalt geschockt zu sein. Wenn wir aufrecht durch den Sturm kommen wollen, müssen wir uns an die objektive Moralität halten und unbeirrt dem höchsten Bewusstsein folgen, dessen wir fähig sind. Aus genau diesem Grund erklärt meine vierteilige Serie „Auroville & das Naturrecht“ ausführlich in Teil 1 die Grundlagen des Naturrechts und wie das kollektive Versagen der Einwohner Aurovilles, danach zu leben, zu gesellschaftlichem Leid führt, sowie in Teil 2 die wichtigsten Gründungsprinzipien Aurovilles, bevor sie in Teil 3 die konkreten Schritte der Putschisten nachvollzieht und bewertet. Das Versagen der Einwohner wird einer tiefgreifenden Diskussion innerhalb der Gemeinde bedürfen. Ohne Zweifel hängt die Zukunft Aurovilles, sollten wir die Übernahme überstehen, an unser aller Erwachen aus liebgewonnenen Illusionen. Das wird wohl unter Ausschluss einer Weltöffentlichkeit stattfinden müssen, die zumeist nicht in der Lage ist, auch nur die einfachsten Wahrheiten anzunehmen.
„Was diese Gemeinschaft, Auroville, durchmacht, hat jedoch Implikationen weit jenseits der Vernichtung einiger Bäume und Gebäude, ja weit über Indien hinaus. Es gibt ernsthafte Weiterungen bezüglich globaler Tendenzen zu kulturellem und wirtschaftlichem Autoritarismus.“ – Ashish Kothari: Bulldozing a dream? Auroville’s importance as an experiment in alternative living, 9.1.2022. meer.com
Obwohl Kothari die Lage korrekt einschätzt, erzählt das noch lange nicht die ganze Geschichte, in deren Rahmen sich sowohl die Übernahme als auch die globalen Tendenzen abspielen. „Wir haben die eine Wahl: Wahrheit oder Abgrund“, warnte Mirra Alfassa, Aurovilles „Mutter“ vor fünfzig Jahren. Was sie mit „Wahrheit“ meinte, erläutert der zweite Teil der Serie. Kurz gesagt handelt es sich um einen der vielen Ausdrücke für Das-was-ist, die ultimative Wirklichkeit, das kosmische Bewusstsein, die Schöpferkraft oder, wenn man keine Scheu vor bedeutungsschweren Wörtern hat, Gott. „Wahrheit“ steht in dem Zitat als Kürzel für den Willen, DAS zu erkennen, sich ihm hinzugeben und ihm zu dienen – oder andernfalls von seiner Antithese verschlungen zu werden.
Die soziale Schere hat eine Entsprechung in einer Bewusstseinsschere, die zwischen den Wachen und den Schlafenden, zwischen den Dienern der Wahrheit und jenen das Abgrunds klafft. Langfristig wird das Mittelfeld von der einen oder der anderen Seite übernommen werden. Wer von den im Spiel befindlichen Kräften nichts hören will, hilft dem Bösen. Wer „neutral“ bleibt, ergreift Partei für das Böse. Wer unhinterfragt Befehle und Regeln befolgt, dient dem Bösen. Klingt abgefahren? Warte nur, da kommt noch mehr.
Offenbarung
Man begegnet nun zusehends mehr Menschen, die dem System den Rücken gekehrt haben, also ausgestiegen sind, wie man so schön sagt. Anders ausgedrückt teilen sie nicht mehr dieselbe Wirklichkeit wie der Rest der Gesellschaft. Fragt man sie, wie es dazu gekommen ist, erzählen sie Dir die Geschichte von einem bestimmten Moment in ihrem Leben, als ihnen dämmerte, dass sie eine Lüge gelebt haben. Der Auslöser für diesen ersten Schritt im „Erwachen“, wie manche den Prozess beschreiben, war häufig genau jenes Werkzeug, das die Illusion erzeugte: Da war ein deutlicher Widerspruch zwischen dem von den Medien gezeichneten Weltbild und ihrer eigenen unleugbaren Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dieser Augen öffnende Moment fühlte sich wie eine Offenbarung an – schockierend, überwältigend, atemberaubend, beängstigend… und befreiend. Fragezeichen, auf die es nie eine Antwort gab, lösten sich auf und es wurde plötzlich klar, dass die Wirklichkeit, über die sich alle einig sind, lediglich ein Trugbild ist. Die Welt begann wieder Sinn zu ergeben. Der Kaiser ist nackt, und man kann das nicht ungesehen machen.
Die Schrecken der Krise sind das Gute an ihr: Man durchläuft fürchterliche Qualen; es fühlt sich an, als ob man stürbe, und dann geht man wie neugeboren daraus hervor, dankbar für die Erfahrung, die einem zuteil wurde. Man hört diese Menschen Dank sprechen; sie sind dankbar für den elften September, die Ukraine-Krise oder die Plandemie, oder sie anerkennen, dass die Übernahme Aurovilles ein mächtiger Weckruf und eine Chance zur Verwandlung unseres Geistes und unseres Verhaltens ist, was es uns erlaubt, den nächsten Schritt in unserer Entwicklung zu gehen.
Dinge, Vorgänge und Zustände, die uns offenbar werden, stehen uns in ihrem nackten So-Sein vor Augen, unverhüllt, ungeschminkt, ungeschönt. Endlich ist es möglich, zu sehen, worin etwas eigentlich besteht, worauf es sich gründet und worauf es abzielt. Erst dann kann man in der Wahrheit leben – in der Wirklichkeit, wie sie ist, nicht wie wir sie gern hätten oder wie wir sie befürchten. Ein anderes Wort für „Offenbarung“ ist „Apokalypse“. Apokalyptische Zeiten sind historische Momente, die die Wahrheit über etwas gesellschaftlich Existenzielles offenbaren. Ein altes Weltbild bricht zusammen, und mit ihm kollabiert die Welt, die sich auf ihm gründete. So entsteht Raum für eine neue Welt.
Welche Richtung die Menschheit einschlägt – zur Wahrheit oder in den Abgrund –, hängt von unseren kollektiven Entscheidungen ab. Die Pfade, die zur einen oder zum anderen führen, sehen sich recht ähnlich. Tatsächlich kann die Grenze zwischen den beiden so dünn und scharf wie eine Rasierklinge sein. Dass sie oft schwer auszumachen ist, hat nichts mit Zufall zu tun. Es liegt im Interesse des Widersachers, als der wahre Jakob zu gelten. So kann er unter dem Deckmantel der Freiheit die Tyrannei zementieren, kann den Faschismus wieder einführen, während er vorgibt, strammer Anti-Faschist zu sein, unter dem Banner Aurovilles dessen übles Gegenstück Asuraville gründen oder die Pforten der Hölle für all jene irregeleiteten Gläubigen öffnen, die schon glaubten, auf dem Weg in den Himmel zu wandeln. Letzteres stellt eine ziemlich gute Metapher für die Wahl zwischen einer Welt illusionsinduzierten Leids und einer Welt höchsten Wahrheitsbewusstseins dar. Sri Aurobindo merkt an:
„Jeden Augenblick unseres spirituellen Lebens, bis man vollständig im Licht angekommen ist, muss man auf der Hut sein und spirituelle Wahrheit von ihren pseudo-spirituellen Imitaten oder Platzhaltern unterscheiden können, die vom Geist und den Gelüsten des Vitals geschaffen werden. Die Fähigkeit, zwischen den göttlichen Wahrheiten und den asurischen Lügen unterscheiden zu können, ist eine Hauptvoraussetzung für den Yoga.“ – Sri Aurobindo: Briefe über den Yoga, Band 1, Sektion 4. Alle weiteren Zitate aus Sektion 6.
Der Asura
Das Wort Asura, das die gesamte Artikelserie hindurch immer wieder auftaucht, bezeichnet hier ein antagonistisches oder böses Prinzip, das der Hinwendung zur höchsten Wahrheit entgegenwirkt. In der religiösen Tradition des indischen Subkontinents steht er für eine Klasse von Wesen, die man sich als Chaos erzeugende Dämonen, böse Geister und Gegenspieler der Götter vorstellte. Dem indischen Weisen Sri Aurobindo zufolge, der sich mit der Natur des Bösen intensiv auseinandergesetzt hat, „gleichen diese Asuras den Teufeln der christlichen Tradition und stellen sich Gottes Willen sowie dem evolutionären Zweck des Menschen entgegen.“
Wenn asurische Kräfte einen menschlichen Körper übernehmen oder in menschlicher Form geboren werden, „hat der Asura keine Seele, kein psychisches Wesen, das sich auf ein höheres Niveau entwickeln muss; er besitzt lediglich ein Ego – üblicherweise ein sehr mächtiges Ego; er hat einen Verstand, manchmal ist dieser sogar höchst intellektualisiert; aber die Grundlage seines Denkens und Fühlens entstammt dem Vital, nicht dem Mental, und steht ist daher im Dienste seiner Gelüste, nicht im Dienste der Wahrheit.“ Die Gelüste eines Asura sind unersättlich; daher strebt er im Endeffekt danach, „die Welt zu beherrschen.“ Zu diesem Zweck erscheint er „in oftmals falscher, manchmal pseudo-heiliger Gestalt, die stets die Lüge verkörpert.“
„Es stimmt, einige Arten von Asuras sind sehr religiös, sehr fanatische Gläubige und achten streng auf ethische Verhaltensregeln. Andere sind natürlich genau das Gegenteil davon. Andere wiederum benutzen spirituelle Vorstellungen, ohne an sie zu glauben, um sie in eine perverse Richtung zu verdrehen und damit den spirituell Suchenden zu täuschen.“
Der Antichrist
Das Geheimnis der Natur des Bösen plagt unsere Gattung seit Urzeiten. Darum bemühte sich jede Kultur, seine Wurzeln zu ergründen, sein Wirken zu erklären und seine Abschaffung zu erreichen. Mythen, Märchen, Gemälde, Skulpturen, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke haben es allegorisch verarbeitet, die psychologische, soziologische und historische Literatur rationalisieren es, das moderne Kino und Kriminalromane normalisieren es. Nichts von alledem scheint heute jedoch nennenswert dazu beizutragen, es zu erkennen und zu eliminieren. Offen gesprochen tragen die moderne Wissenschaft und Kultur nur zur Vergrößerung der Konfusion bei und werden so Teil des Konglomerats dunkler Kräfte, zu dem sich unsere individuellen und kollektiven Handlungen über die Jahrtausende zusammengeballt haben.
Obwohl das menschliche Gewissen unmoralisches Handeln sehr leicht entdecken kann, ist das Böse in den Händen von Theologen zu einem Gegenstand umfangreicher Mythenbildung geworden. Als selbsternannte Autoritäten für alles Göttliche, Moralische und Rechtliche war es ihnen möglich, eine einfache Sache zu einem komplexen Thema aufzublasen, das gewöhnliche Menschen weder verstehen konnten noch sollten. Der säkularisierende Effekt der Aufklärung verschärfte die allgemeine Ignoranz, weil sie die Verbreitung einer Vielzahl von Definitionen, Konzepten und ganzen Philosophien des Bösen ermöglichte, einschließlich der Vorstellung, dass es gar nicht existiere. Bemerkenswerterweise sind sich materialistische Wissenschaftler und spiritualistische New-Age-Gurus in genau diesem Punkt einig.
Das Böse kann viele menschliche Gestalten annehmen, etwa den feigen Befehlsbefolger, den hirnlosen Bürokraten, den egoistischen Opportunisten, den unwissenden Leugner, den blutdürstigen Schlächter oder den Typus, den wir im Folgenden betrachten wollen: den arglistigen Menschenfänger.
Neben dem zuvor erwähnten Asura stellt die Gestalt des Antichrist aus dem Neuen Testament eine weitere treffende Allegorie des Fängers dar. Christus steht für den Pfad wahrer Moralität und Selbst-Erkenntnis, der Antichrist repräsentiert sein unmoralisches Gegenstück. Nachdem Jesus die Schriftgelehrten und Pharisäer angeprangert hat, die das Wort Gottes für sich vereinnahmt hatten, sagt er das Ende ihrer korrupten Herrschaft voraus. Als die Jünger wissen wollen, wie man das nahende Ende erkennen könne, antwortet er:
„Seht zu, dass euch niemand verführt! Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus! Und sie werden viele verführen. Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Seht zu, erschreckt nicht! Denn es muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende […] Dann werden sie euch in Bedrängnis überliefern und euch töten; und ihr werdet von allen Nationen gehasst werden um meines Namens willen.“ – Matthäus 24, Elberfelder Übersetzung)
Der Antichrist ist also einer, der den Platz Christi einnimmt, aber dessen Lehren verneint. Er ist ein antagonistischer Fänger, ein Illusionist, dessen Fallen jene auf einem wahren christlichen Pfad erkennen und meiden, selbst um den Preis größter Opfer. Jene aber, die andere Prioritäten als die Wahrheit verfolgen – die überwältigende Mehrheit –, werden auf die Täuschung hereinfallen. Im Namen falscher Moralität werden sie die aufrechten Jünger hassen, denunzieren, verfolgen oder sogar töten. Das wahre Gesicht des Gegenspielers bleibt jedoch nicht auf Dauer verborgen; jene, die ihm auch dann noch die Treue halten, verwehren sich selbst den Einzug ins Himmelreich.
Ich möchte noch einmal betonen, dass hier nicht die Rede von Religion ist. Ich bin kein Gläubiger. Wir können das Neue Testament, das Dhammapada, die Bhagavadgita, Sri Aurobindos Lehren und ähnliche Schriften als kulturell gefärbte tief spirituelle Beschreibungen identischer Grunderkenntnisse untersuchen. Daneben offenbaren sie archetypische Abläufe der menschlichen Psyche. Religiöse Schriften überliefern ein uraltes Wissen von der menschlichen Natur, die die moderne Wissenschaft gerade erst anfängt zu verstehen. Dieses Wissen aufgrund einer rigiden atheistischen, antireligiösen oder materialistischen Haltung in Bausch und Bogen abzulehnen weist den Leugner bereits als Beute des Fängers aus.
Das Verschwinden des Bösen
Der Antichrist ist eine biblische Gestalt, die die Kräfte des Bösen in ihrer heimtückischsten Form repräsentiert, ähnlich einem Wolf im Schafspelz, der das Vertrauen der Lämmer erschleicht. Als solcher war er bis ins 18. Jahrhundert, als die Philosophen der Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionäre das christliche Europa zu säkularisieren begannen, sozusagen ein Avatar Satans, ein fleischgewordenes Übel. Zahlreiche politische und religiöse Persönlichkeiten wurden bis dahin bezichtigt, der Antichrist zu sein: der römische Kaiser, der Papst, die Antipäpste, die Reformatoren und diverse Fürsten. Der inflationäre Gebrauch dieses Ausdrucks führte dazu, dass Klerus ebenso wie das gemeine Kirchenvolk in ihrer Wachsamkeit gegen das wandelnde Böse nachließen, bis man schließlich nur noch über es lachte. Der Antichrist wurde ins Land der Mythen und Märchen verbannt, als eine Ausgeburt der Phantasie, der keine Bedeutung in der „realen“ Welt mehr zukommt.
Das war gewissermaßen ein großer Schritt vorwärts, was das Verständnis des Bösen betraf, denn es machte Schluss mit seiner Externalisierung, aber gleichzeitig wurde das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet. Weil das Böse „kein Ding“ mehr war, konnte es von seinem Ankerplatz im Unterbewussten aus ungestört, fortgesetzt und mit steigender Effizienz das Gefüge der Schöpfung untergraben, und so führte die moderne säkulare Kultur mit ihrer extrem in Gier und Materialismus verhafteten Weltschau die Menschheit im Höchsttempo an den Rand des Abgrunds. Den Antichrist von heute sollte man nicht länger in mächtigen Individuen verorten, obwohl das Böse unsere „Autoritäten“ mittels psychopathologischer Persönlichkeitsstörungen fraglos fest im Griff behält, und durch sie deren Befehlsempfänger. Nein, der Antichrist des 21. Jahrhunderts manifestiert sich in Kollektiven.
Während das Böse durch Streuung fast vollständig aus Wahrnehmung und Diskurs in der Öffentlichkeit christlich basierter Gesellschaften verschwunden ist, haben andere Kulturen eine ungetrübtere Sicht auf das, was hier vor sich geht, bewahrt. Sie betrachten das Weltbild und die Kultur westlicher Zivilisation und identifizierten diese in ihrer Gesamtheit mit ihrem eigenen mythologischen Widersacher.
„Europa ist ein kultureller Ausdruck von Yurugu, dem arroganten und unreifen männlichen Wesen, das seine eigene Unvollständigkeit verschuldete, und daher für immer der erfolglosen Suche nach seiner weiblichen Zwillingsseele verhaftet bleibt, jenem Teil seiner selbst, den er geleugnet hat und der ihn Ganz machen könnte“,
schreibt Dona Richards in ihrem Buch „Yurugu: An African-centered critique of European cultural thought and behavior“. Darin erklärt sie unter anderem, wie Vertreter der europäischen Kultur spirituelle Konzepte wie „Harmonie“ und „Ordnung“ benutzen, um deren pervertierte Formen zu bezeichnen:
„Rationale und harmonische Ordnung … stehen für zwei grundsätzlich verschiedene Seinsweisen. … Das Ringen um Kontrolle kann nie zu Harmonie führen, der Essenz spirituellen Heils. Rationale Ordnung beruht auf der Annahme von Konflikt und Gegensatz und wird in der Intensität, mit der sie von Europäern verfolgt wird, zu einer sublimierten Form von Gewalt. Rationale Ordnung kann niemals mehr darstellen, als das Werk von Menschen, die nur zum Teil erkennen, wer sie sind, das heißt, in teilweiser Erkenntnis ihrer kosmischen Bedeutung. … Wenn sie sich auf diese von ihnen geschaffene Ordnung beschränken, deformiert das sie selbst und ihre Welt.
Jack Forbes, ein von Ureinwohnern Nordamerikas abstammender Akademiker, nennt die westliche Kultur “das zentrale Problem menschlichen Lebens heute.” Er bezeichnet die westliche Zivilisation als eine „Kultur des Bösen.“ Die Philosophie der Ureinwohner hingegen erkenne das Recht jedes Wesens auf Leben und Selbstbestimmung an. Abgesehen von der Befriedigung von Grundbedürfnissen vermieden amerikanische Ureinwohner das Zufügen von Schaden und Leid gegen Menschen, Tiere und Pflanzen gleichermaßen, sagt Forbes, und sie fühlten mit jenen, die litten. Anders ausgedrückt lebten sie im Rahmen des Naturrechts. Er bemerkt außerdem, dass „die Lüge … fast immer ein Faktor im Wétiko-Verhalten“ sei und dass sie „tatsächlich einen Schlüsselbegriff in der gesamten Epidemiologie des Wétikoismus darstellen [könnte].” Doch “Wie man in diesem Leben lebt, ist die wirkliche Frage, die sich uns stellt. Alle anderen Themen sind unbedeutend verglichen mit diesem”, streicht er heraus.
“Wie verhalten sich Menschen, die diesem [spirituellen] Weg folgen? Wie verhalten sie sich anderen Menschen gegenüber? Wie verhalten sie sich gegenüber der Erde? Wie verhalten sie sich anderen Lebewesen gegenüber? Tun sie Böses? Sind sie freie Männer und Frauen, die sich dem Bösen widersetzen? Oder sind sie passives Fußvolk, das darauf trainiert ist, seine Gedanken und sein Herz seinem Herren unterzuordnen?” – Jack Forbes: Columbus und andere Kannibalen. Die indianische Sicht der Dinge
Paul Levy, der in seinen Arbeiten die Natur des Bösen untersucht, gab ihm eine psychologische Bezeichnung: Maligne Egophrenie (ME), eine Massenpsychose, die sich eines überschießenden Ichs bedient (engl.: me). Später ging er, in Anlehnung an Forbes, dazu über, den Namen eines kannibalistischen Dämons, Wetiko, zu verwenden, der nach Vorstellung der Cree-Indianer die meisten Weißen befallen hat.
„Doch welchen Namen wir auch benutzen, wir befinden uns mitten in einer kollektiven Psychose gigantischen Ausmaßes, und eine ihrer bestürzendsten Merkmale besteht darin, dass nur wenige Menschen sie überhaupt erwähnen. Hört sich das für Sie gerade so verrückt an wie für mich? Unser Wahnsinn ist auf unheimliche Weise zur Normalität geworden, und das geht so weit, dass wir ihn nicht einmal bemerken.“ – Paul Levy: Dispelling Wetiko. Breaking the Curse of Evil
Die Überwindung des Bösen
In einem anderen Artikel habe ich betont, dass es das Gute noch immer gibt. Man muss dem hinzufügen: Das gilt notwendigerweise auch für das Böse, wie Sri Aurobindo oder C. G. Jung herausstellten. Jesus Christus selbst sagt: „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde“ (Johannes 15:22, Elberfelder Übersetzung). Sobald der Christus in unserer Psyche etabliert ist, schreibt Jung, ist “das Kommen des Antichristen … nicht bloß prophetische Voraussage, sondern ein unerbittliches Gesetz.” Der Antichrist ist “ein nachahmender (böser) Geist, der gewissermaßen Christi Fußstapfen folgt, wie ein Schatten dem Körper.”
“Jede höhere Differenzierung des Christusbildes [verursacht] eine entsprechende Verstärkung des unbewußten Komplimentes, wodurch die Spannung zwischen Oben und Unten wächst.” – C. G. Jung: Christus ein Symbol des Selbst, in: Aion
Jene, die nach der Wahrheit streben, müssen zweierlei verstehen: Erstens: Zwar manifestiert sich das Böse in eindrücklichen Phänomenen und richtet sich im menschlichen Geist ein, aber es ist kein eigenständiges Ding oder Wesen, das man vernichten kann. Es ist keines von Gottes Kreaturen. Das Gute ist nicht der Urheber des Bösen. Die höchste Wahrheit gebiert nicht die Lüge. Das göttliche Bewusstsein hat nicht das Unbewusste erschaffen. Dies sind Schatten, die aus der Abwesenheit von IHM erwachsen. Gott (oder die Natur, das Universum, wenn Dir das lieber ist) hat alle Wesen mit Freiheit ausgestattet und das Gesetz von Ursache und Wirkung eingerichtet, das die Konsequenzen unserer freien Entscheidungen austeilt. Satan ist ebenso ein Sohn Gottes wie der Christus, aber er entschied sich, das Gesetz zu missachten und wurde so zum „gefallenen Engel.“ Dieser Allegorie zufolge geschieht das Böse nie auf Veranlassung Gottes, sondern entsteht aufgrund einer freien Willensentscheidung oder eines fahrlässigen Rückfalls ins Unbewusste.
„Das Böse ist kein Wesen, sondern Abwesenheit des Guten ist seine Bezeichnung. Ferner kann das Gute ohne das Böse existieren, aber das Böse nicht ohne das Gute, und es kann kein Böses geben, wo nicht auch ein Gutes ist.“ — Augustinus: Dialogus quaestionum, quaest XVI
Auf den Punkt gebracht könnte man sagen:
Es gibt aktive und passive Formen des Bösen. Aufgrund Deiner Entscheidungsfreiheit kannst Du Dich bewusst gegen das Gute, gegen Gott, gegen das Christusbewusstsein entscheiden, und das macht Dich in der Regel zu einem Asura bzw. Antichrist. Oder Du kannst das Naturrecht in Vergessenheit geraten lassen und so ein Apostel des Antichrist werden. Denn auch der Antichrist ist ein Menschenfischer.
Die zweite Einsicht, die der Wahrheitssuchende benötigt lautet: In der Psyche, ähnlich wie in der Physik, trifft jede Kraft auf eine gleich große Gegenkraft, wenn es zur direkten Konfrontation kommt. Weder durch Angriff noch durch Missachtung oder Leugnung der Macht des Bösen lässt sich der Widersacher überwinden, sondern es wird ihn mit ähnlicher Stärke erfüllen – denn beide Kräfte sind tatsächlich dieselbe Kraft, die gegen sich selbst ins Feld geführt wird. Einmal verstanden löst sich der uralte Dualismus vom Guten, welches das Böse bekämpft, auf. Das ermöglicht es, das Böse anzunehmen und es in einer Art spirituellem Jiu-Jitsu zu transzendieren, indem seine Kraft in den Dienst unserer Bemühungen um das Wahre überführt wird. „Die Seele geht niemals verloren; es gibt keine ewigen Höllenqualen“, schreibt Nolini Kanta Gupta, einer von Sri Aurobindos Schülern, „aber der Mensch, die menschliche Seele, muss durch die Hölle gehen, also durch Prüfungen, Beschwernisse und Qualen, um in den Himmel zu gelangen.“
Schluss
„Das Böse ist von Übel, daran besteht kein Zweifel. Es ist nicht göttlich und es ist keine Illusion. Es ist ein dunkler Fleck auf dem reinen Gesicht der Schöpfung. Seine Existenz kann nicht in dem Sinne gerechtfertigt werden, dass es das Richtige sei und willkommen geheißen und bewahrt werden müsse, weil es Teil der kosmischen Sinfonie sei. Nicht einmal in dem Sinn, dass es eine Probe und Prüfung sei, mit der das Göttliche die Rechtschaffenen konfrontiert, damit diese ihre Verdienste unter Beweis stellen.“ – Nolini Kanta Gupta, The Yoga of Sri Aurobindo
Das Böse ist auch nicht die Kehrseite des Guten, sondern die Dunkelheit, die aus der Abwesenheit des Lichtes resultiert, oder die Illusion, die in Abwesenheit der Wahrheit Raum greift. Das Böse ist eine Wahl, die durch die Wahl des Guten rückgängig gemacht werden kann. „Kehre um“, sagt der Christus, so einfach ist das. Und das ist die Aufgabe eines und einer jeden, die „sich nach einem höheren, wahreren Leben sehnen“, seien sie nun Suchende auf einem spirituellen Pfad oder einfache Bürger, die sich nicht länger mit emotionaler Kälte, politischer Korruption, sozialem Chaos und ökonomischem Kampf um sie herum abfinden möchten. Der erste Schritt zur Beendigung des Bösen sollte offensichtlich sein: Hör auf zu lügen. Belüge keinen Anderen, auch nicht mit guter Absicht; vor allem aber:
Die Wahrheit der Lüge und das Gute dem Bösen vorzuziehen ist überhaupt nicht kompliziert; das wird es erst dadurch, dass wir uns vor den möglichen Reaktionen auf unsere Entscheidung fürchten. Ein am Wahren ausgerichtetes Leben bleibt nur so lange ein Wunschtraum, als wir auf die Zustimmung anderer zu unserem Kurs warten. Wahrheit bleibt ungreifbar nur bis zu dem Eingeständnis, dass wir aus dem einen oder anderen Grund – häufig Faulheit, Selbstsucht oder Feigheit – von der Scheinwirklichkeit der „Autoritäten“ gefoppt worden sind.
„Bevor sie stirbt, schwingt sich die Falschheit zu höchster Potenz auf. Und noch immer verstehen die Menschen nur die Lektion der Katastrophe. Muss sie geschehen, bevor sie ihre Augen für das Wahre öffnen? Ich wünsche mir eine Anstrengung von allen, damit es nicht dazu kommt. Nur die Wahrheit kann uns retten: Wahrheit im Sprechen, Wahrheit im Handeln, Wahrheit im Wollen, Wahrheit im Fühlen. Wir haben die Wahl zwischen dem Dienst an der Wahrheit und der Vernichtung.“ – Die Mutter
Nachwort
In den Teilen 3 und 4 dieser Artikelserie war viel von „uns“ und „ihnen“, Moral und Unmoral, Gut und Böse, dem Übernahmekommando und den Einwohnern die Rede. Diese dualistischen Ausdrücke stehen natürlich nicht für das, was uns als Menschen eint, sondern für die Mannigfaltigkeit unserer Ausdrucksformen. Die fundamentalen Unterschiede der Auffassungen und ethischen Positionen zu unterscheiden ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu rechtem Handeln. Die Unterscheidungsmerkmale rechtfertigen jedoch nicht die Abwertung einer Gruppe gegenüber einer anderen. Ein Täter ist geradeso ein Mensch wie sein Opfer. Wir sind eins, und das muss sich darin ausdrücken, wie wir einander behandeln, aber es darf uns nicht wehrlos und blind für zerstörerische Kräfte werden lassen. Schmerz und Leid sind Teil unserer Wirklichkeit; dasselbe trifft auf das Böse zu, das davon profitiert.
Die Geschichte – und gerade die jüngere Geschichte in zunehmendem Maße – hat uns gezeigt, dass das Böse keine Grenzen kennt und dass das Gute nicht immer gewinnt. Damit es sich durchsetzt, bedarf es unserer aktiven Unterstützung, unseres aufrichtigen dauerhaften Strebens nach ihm. Das Naturrecht zu kennen und intelligent anzuwenden ist ein notwendiger Fortschritt hierin, aber bei weitem nicht ausreichend. Während wir auf das Wissen um objektive Moralität beim Streben nach dem Guten nicht verzichten können, bedarf es darüber hinaus weiterer Elemente wie der Stimme des Gewissens, der Förderung der Empathie, der Fähigkeit zu vergeben, der Bereitschaft zur Versöhnung, eines generell guten Willens und des Glaubens an eine höhere Kraft. Darum entwickelten Kulturen das Naturrecht meist nicht als eine getrennte Philosophie, sondern betteten es in breiter angelegte Epistemologien ein. Beispiele hierfür sind die Lehren Christi, des Buddha, Laotses, Rudolf Steiners oder Sri Aurobindos. Wo die Eckpfeiler des Naturrechts fehlen, über die ich im ersten Artikel dieser Serie geschrieben habe, darf man mit Fug und Recht feststellen, dass solche Philosophien, Ideologien, Religionen, Personen, Gemeinschaften und Gesellschaften von Übel sind. Sie führen in den Abgrund, weil sie die Natur des Seins, das Wahre verleugnen:
Moral ist Freiheit.
Freiheit ist Leben.
Leben ist Yoga.
[Titelbild: Der Teufel flüstert dem Antichrist zu. Detail aus dem Fresko “Predigten und Taten des Antichrist” in der Kathedrale von Oviedo, von Luca Signorelli 1501]
Auroville & das Naturrecht
- Von stinkenden Lilien und üppig belebten Seen
- Nietzsche ist tot
- Asuraville
- Wahrheit oder Abgrund