Was heißt hier „Mach was!?“

Was heißt hier „Mach was!?“

Ein Nachwort zum Artikel „Die Sünde des Gehorsams“

Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, den Artikel über „Die Sünde des Gehorsams“ durchzulesen. Ich weiß zu schätzen, dass jemand mit möglicherweise sehr viel mehr durchlebter Erfahrung beziehungsweise mit sehr viel mehr durchgrübelter Philosophie sich diese Gedanken zu Gemüte führt, die bestimmt nicht zum ersten Mal Deinen Weg kreuzten, und, wer weiß, vielleicht aus gutem Grund bereits von Dir verworfen wurden. Dass Du Dich trotzdem von ihnen berühren lässt, das rührt wiederum mich an.

Du tust übrigens gut daran, dieses „Mach was!?“, das der von Carlos Schwabe so eindrücklich dargestellten Welle der Hysterie vorauseilt [Startbild meines Blogs], misstrauisch zu beäugen, denn schon bei oberflächlicher Betrachtung stellen sich eine ganze Reihe Fragen. Erstens, wer ist der Adressat? Jeder Dahergelaufene, der nicht schnell genug wieder außer Reichweite flüchtete? Die Behörden? Die Regierung? Interessengruppen? Berufsrevolutionäre? Gott? Inwiefern steht es in der Macht des Angesprochenen, etwas zu tun?

Zweitens, was wird denn vom Adressaten gewollt? Dass er irgend etwas tut, ob es nun sinnvoll ist oder nicht? Besteht überhaupt eine Notwendigkeit zu handeln oder eine Berechtigung zum Eingreifen?

Drittens, wer ist der, der hier „Mach was!?“ ruft? Inwiefern kann er von anderen verlangen, dass sie handeln? Warum handelt er nicht einfach selbst?

All das ist in den beiden Zeichen, die dem „Mach was“ folgen – dem Ausrufe- und dem Fragezeichen – verschlüsselt. Der, der diesen Ruf ausstößt, ist sich seiner Sache selbst nicht sicher, weiß nicht, was er will, schreibt sich selbst keine Wirkkraft zu. Für seine Furcht sucht er Erlösung im Außen.

Das Handeln, das auch ein bewusstes Nicht-Handeln sein kann – hier kommen wir nun zu meiner eigenen Position, die ich unter anderem mit Hesse oder Drewermann teile –, liegt in der Verantwortung eines jeden Einzelnen. Mein Schreiben ist an diese „Mach was!?“-Rufer gerichtet; auch an den Rufer in uns, das hilflose Kind, das sich an seine Eltern wendet, die stets die heißen Kartoffeln für uns aus dem Feuer geholt haben. Die Verantwortung für unser Sein und Handeln, also das Formulieren einer Antwort an die Herausforderungen des Lebens, kann nämlich nicht an übergeordnete Mächte abgetreten oder an Dritte delegiert werden. Sie ist uns unveräußerlich zugehörig wie die uns von Geburt an gegebene Freiheit der Entscheidung. Wir mögen uns ihrer unbewusst sein, wir mögen sie ablehnen, wir mögen unsere Gründe haben, weswegen wir sie nicht (oder nicht vollständig und immer) wahrnehmen, aber das enthebt uns ihrer nicht und bewahrt uns nicht vor den Folgen. Die Konsequenzen für unsere Fehltritte regelt eine höhere, dem menschlichen Willen überlegene Macht, die der westliche Kulturkreis dem Gesetz von Ursache und Wirkung zuordnet. Im Osten nennt man dieses Gesetz „Karma“ – das Naturgesetz jedenfalls, dem zufolge kollektive Unmoral in Verfall, Leid, Ungerechtigkeit und Unfreiheit endet, während verantwortliches Handeln zu allgemeinem Wohlstand, Gerechtigkeit und Freiheit in einer Gesellschaft führt. Das Naturrecht ist unumstößlich. Es braucht keinen Gerichtshof, dem gegenüber wir uns verantworten müssten, sondern nur unser eigenes Gewissen, das die Grundlage für unsere freie Entscheidung zu moralischem oder unmoralischem Handeln liefert. Wir handeln; für die Konsequenzen ist gesorgt. „Das Nähere regelt ein Gesetz“, wie es in diversen deutschen Verfassungen so schön hieß und heißt.

So weit, so gut. Doch was ist mit der Angst? Sie ist doch gerechtfertigt, denkt man nur an die mannigfaltigen Formen von Gewalt, die mit und ohne Anlass andauernd über uns hinwegfegen: die Staatsgewalt, die Gefolgsverweigerung mit Polizeigewalt bricht; die strukturelle Gewalt, die all jenen Konformität befiehlt, die in gesellschaftliche Strukturen eingebunden bleiben und von ihnen profitieren wollen; und die Gewalt des Mobs, der Massen, die Abweichler mit Abscheu, Häme oder manchmal auch mit Prügeln begegnet. Nur zu verständlich, dass Menschen sich zum Mitheulen im Wolfschor entscheiden, oder doch wenigstens den Kopf unten halten und moderate Töne anschlagen.

Die Angst als solche ist aus meiner Sicht keine Sünde sondern ein Warnsignal: „Achtung, hier empfiehlt es sich, Vorsicht walten zu lassen.“ Sünde wäre es, aus der Anwesenheit der Angst die Abwesenheit von Entscheidungsfreiheit abzuleiten. Die vermeintliche Unmöglichkeit, angesichts einer Bedrohung den rechten Weg zu beschreiten, ist weniger der Natur des Wegs geschuldet; dieser ist steinig, steil und gefährlich, keine Frage. Oft geht das, was er uns abverlangt, hier und heute über unsere Kräfte. Er aber steht uns jederzeit offen, neckt uns geradezu, reizt uns mit seiner offensichtlichen Güte. Darum werden jene, die die Ohren vor seinem zu uns zurückgeworfenen Ruf “Mach was!?” nicht verschließen, sich immer wieder be-rufen fühlen, ihn in ihrem eigenen Tempo zu beschreiten zu versuchen. Ohne die von ihm eröffnete Gelegenheit zum rechten Handeln gäbe es Paulus zufolge keine Sünde. In Abwesenheit seiner Einladung zu rechtem Handeln bedürfte es keiner Rechtfertigungen, keiner Ausflüchte, den Drohungen und Lockungen des allgemein Akzeptablen nachgegeben und keinen Mut gefunden zu haben.

Auch wenn ich im Schreiben Dinge auf diese Weise zuspitze, muss sich niemand vor mir für seine Entscheidungen rechtfertigen. Das ist nicht mit „Verantwortlichkeit“ gemeint. Der Maßstab für das Wahre, Schöne, Gute ist stets nur das eigene Gewissen. Im Übrigen bin auch ich nicht immer gleich stark; oft begehe ich Fehler. Ich kann lediglich jeden Tag aufs Neue versuchen, recht zu handeln, und wenn ich auf den falschen Weg gerate, „umzukehren“, wie an prominenter Stelle vorgeschlagen. Das geht nur, wenn man Zweifel zulässt und sich Nichtwissen eingesteht – mit der gebotenen Achtsamkeit, dass daraus kein Dauerzustand von Leugnung oder Ignoranz wird.

Natürlich verurteile ich niemanden für sein von meiner Sicht abweichendes Verständnis, sei dies nun philosophischer Art oder medizinischer. Wenn sich jemand gegen Schaden schützen will, soll er das gern tun. Was ich verurteile und sanktioniere sind Versuche des Übergriffs: die Behauptung, ich oder ein Anderer oder gar wir alle miteinander wären für den Schutz dessen zuständig, der sich schützen will, und wir wären moralisch dazu verpflichtet. Dieses Verlangen steht dem Naturrecht, steht Freiheit und Eigenverantwortung entgegen, daher ist es grundsätzlich unethisch. Moralisches Verhalten setzt ethisches Denken voraus, verlangt also eine freie und bewusste Entscheidung für rechtes Handeln. Wer Befehle befolgt, weil sie den Stempel der Autorität tragen, kümmert sich nicht um das Recht oder Unrecht seines Handelns; und wer andere dazu zwingt, Regeln zu befolgen, versucht sie ihrer Freiheit, Eigenverantwortung und damit auch ihrer Moral zu berauben.

Dass sich die überwältigende Mehrzahl der Menschen von solchen Aussagen, milde ausgedrückt, nicht angesprochen fühlt, geschweige denn in ihnen eine Form von Hilfe erkennen kann, versteht sich fast von selbst. Ohne den lang anhaltenden, allgemein für selbstverständlich erachteten und daher gar nicht mehr als schädlich wahrgenommenen Zustand allumfassenden Unrechts bedürfte es keines leidenschaftlichen Eintretens für dessen Überwindung. Gerade weil die von Hesse, Steiner, Krishnamurti, Drewermann, Illich und anderen Denkern artikulierten Überlegungen Sand ins Getriebe massenproduzierten Denkens streuen, sollte ihnen Raum gegeben, ja müssen sie geäußert werden. Nun, da die Zeit gekommen ist, in der sie sich bewähren und bewahrheiten, wäre es meines Erachtens ein falsches Zeichen, kleinlaut, zweiflerisch oder gar reuig über sie zu sprechen. Gerade heute las ich bei Charles Eisenstein: „Seid energisch beim Zurückweisen jeder Antwort, von der eure Seele weiß, dass sie unwahr ist, wie schmeichelhaft sie auch für eure Rechtschaffenheit sein mag.“

Du kannst jene, die sich in kognitive Dissonanz begeben haben – selbsternannte Antifaschisten, Polit-Punks, Ethik-Kommissionen, Klerus, Impfärzte, TV-Philosophen –, nicht umstimmen; aber Du kannst jenen, die Dir mit Respekt zuhören, den Rücken stärken, indem Du signalisierst, dass Wahres und Richtiges auch dann wahr und richtig bleibt, wenn man dafür Unannehmlichkeiten erfährt. Ganz abgesehen vom schrecklichen Gefühl, andernfalls eine Lüge zu leben, wissen wir alle, wohin es führt, wenn zu viele zu lange den Mund halten und um des lieben Friedens Willen mitspielen.

Was nun rechtes Handeln in Corona-Zeiten angeht, so kann und will ich keine konkrete Anleitung geben, denn es wäre vermessen, anzunehmen, ich verstünde die Gesamtheit all dessen, was hier und jetzt in Deiner Lage von Bedeutung ist. Es empfiehlt sich allerdings, naturrechtliche Prinzipien zu bedenken. Denn dass wir es bis an diesen Punkt gebracht haben, diese Krise des Bewusstseins, die wir sowohl kollektiv als auch persönlich durchleben, ist aus meiner Sicht unzweifelhaft der vollständigen Abkehr von unserer conditio geschuldet. Vielleicht kann uns die Not lehren, wie man richtig denkt, fühlt und handelt; wie man fischt, statt sich vom Pizzataxi die lieblos aus Abfällen zusammengeklebten Fischstäbchen frei Haus liefern zu lassen.

Eines weiß ich ohne jeden Zweifel seit ich denken kann: Was grundsätzlich, überall und jederzeit falsch, unmoralisch und langfristig destruktiv ist, sind Zwang und blinder Gehorsam. Es kann schon vorkommen, dass das frei Getane bzw. Gelassene mit dem Befohlenen übereinstimmt. Hierfür braucht man sich nicht zu schämen, wenn das, was es Dir gebietet, Weisheit war, nicht menschlicher Ratschluss. Wenn Du tust, was von Dir verlangt wird, dann soll es aufgrund einer freien Entscheidung geschehen, die bewusst für – und im Vertrauen auf – das Wahre, Schöne, Gute getroffen wurde. Das wünsche ich Dir, das wünsche ich uns allen.

Mit der Eselsmütze auf dem abgewetzten Sünderbänklein sitzend,

Dein Xelzbrod.

[Titelbild: Schulszene, Stahlstich von Thomas Webster um 1850, Provenienz: Museum Schloss Moritzburg Zeitz, Lizenz: cc by-nc-sa 3.0]

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