Begegnungen mit alten Freunden, die man lange nicht gesehen hat, ähneln heutzutage denen von zwei Katzen: Man umschleicht sich langsam, belauert sich, achtet auf jede Nuance des Muskelspiels, jede Lautäußerung. Begegnungen mit Fremden dagegen laufen schneller ab; man beschnüffelt einander, um dann schwanzwedelnd Frieden zu schließen oder sich umgehend zu beißen, bis einer das Weite sucht. Der Grund hierfür ist die neueste Version der Gretchenfrage.
Oberflächlich betrachtet ist das keine triviale Angelegenheit. Von der Antwort hängt schließlich ab, ob der Befragte ins Lager der verantwortungsbewusst das Leben seiner Mitmenschen Schützenden gehört oder für Freiheit kämpft. Es scheint ums Eingemachte zu gehen. Mit etwas Abstand muss man jedoch konstatieren, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. Es darf angenommen werden, dass Gesundheit und Freiheit nicht eigentlich im Mittelpunkt der Frage stehen, auf jeden Fall aber schon morgen völlig gleichgültig sein werden, wie auch nach Faustens Seelenheil schon bald kein Hahn mehr krähte. Besinnungslos wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.
Warum also möchten‘s die Leute wissen? Warum wollen sie wissen, ob man an ein Killervirus glaubt? An die Existenz von Viren überhaupt? An die heilige Vakzination als einzigen Weg zur Erlösung von dem Übel? Weshalb wird man bekämpft und verstoßen, wenn man verneint? Nun, die eigentliche Frage lautet wohl: Gehörst du zu uns oder bist du der Feind? Sie ist vielleicht so alt wie die Menschheit, aber sie gewinnt seit Entstehung der Zivilisation tendenziell an Wichtigkeit. Denn die Kulturen der Zivilisation sind hierarchisch aufgebaut, konzentrieren alle Macht, alles Gute, alles Richtige auf einen einzigen beherrschenden Punkt. Diesen dankend abzulehnen, weil man seiner eigenen Wege geht, bedeutet Rebellion gegen den Hierarchen, Ketzerei gegen die einzig wahre Religion, Lästerung des einzig wahren Gottes.
Ich bin der Herr, dein Gott […] Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
– 5 Mose 5:6-7
Auf den Pfaden des Alleingültigkeitsanspruchs wandeln keineswegs bloß Menschen, die dem Mainstream angehören. Gerade jene, die von sich behaupten, einer neuen, besseren, wahreren Wahrheit zu folgen, hört man zu ihrer Rechtfertigung nicht selten darauf hinweisen, dass auch vor dem vermeintlichen Triumph der Wissenschaft über den Aberglauben „jeder wusste, dass die Erde flach sei.“ Chemotherapie heilt Krebs und die Erde ist eine Scheibe lautet beispielsweise der Titel eines Buches, das der etablierten Schulmedizin einen Platz auf dem Schrotthaufen absurder Ideen zuweisen möchte.
Die Flat-Earther, wie man neudeutsch jene nennt, die der kopernikanischen Kosmologie ihr eigenes Weltbild entgegensetzen, sind für jeden, der sich als modernen, aufgeklärten Menschen verstehen möchte, geradezu der Inbegriff irrationalen Sektierertums. Auf sie darf man jedes beliebige negative Klischee projizieren, vom Wissenschafts- über den Corona- bis zum Holocaust-Leugner, und den Aluhut gibt‘s gratis anbei – natürlich zu dem Zweck, sich selbst als vernünftigen, fest auf dem Boden der Wissenschaft stehenden Menschen in den Pulk der exklusiven Wahrheitsbesitzer einreihen zu können.
Wissenschaft ist schon so sehr zum Synonym für Wahrheit geworden, dass bereits der Hauch eines Zweifels an der ihr zugrunde liegenden Philosophie oder ihrer Praxis Schock und Ekel auslösen. Wer nicht an sie glaubt wie der Katholik an die jungfräuliche Geburt, wer es versäumt, vor Professoren und Doktoren den Hut zu ziehen, indem er jedem eigenen Urteil abschwört, mit dem darf nicht gesprochen werden. Bestimmt stellt der sogar – Satan, weiche von uns! – die Evolution infrage, der Perversling. Haltet den Kindern die Ohren zu!
Gestehen wir es doch endlich ein: Unser Wissen um die Entstehung der Arten, um die Gestalt der Erde oder die Ursache von Krankheiten ist kein bisschen gesicherter als das eines mittelalterlichen Gelehrten, eines alten Griechen oder eines Buschmanns. Unsere Kultur betrachtet die Dinge durch eine andere Linse, die in mancherlei Hinsicht klarer sehen lässt, in anderer dagegen das Bild stark verzerrt, trübt und einschränkt. Jede Kultur besitzt ihren ganz eigenen Blickwinkel, und die Dinge, die sie sieht, erlauben ihr die Entwicklung von Wissen und von Techniken, die ihr Leben auf ihre besondere Weise funktionieren lassen. Das Leben der Menschen in anderen Kulturen, Glaubenssystemen oder mit anderen Vorstellungen von der Welt ist nicht (notwendigerweise) schwieriger, kürzer, leidvoller oder dysfunktionaler als unseres. Der Aborigine fühlt sich völlig wohl in seiner traumgewebten Welt, der Pygmäe lebt mit seiner Naturmedizin nicht kürzer als ein Stadtmensch, der Papua mit seinen Geistern und Dämonen dürfte sogar gesünder sein als der typische AOK-Versicherte und auch der Flat-Earther könnte ein sinnhaftes Dasein in Freude haben, wenn man ihn nur lassen würde.
Die Vorstellung, dass einer von uns weiß, was für andere gut ist, sollte durch jahrtausendelange Falsifikation so dermaßen lächerlich geworden sein, dass man sich wundert, wie viele Menschen heute die ganze Welt mit ihrem Spritzen-Voodoo gewaltsam zu beglücken versuchen. Ihre Einstellung entstammt dem uralten angstgetriebenen Kontrollwahn, der sämtlichen Zivilisationen zu eigen ist: dass wir alles wissen müssen, was es zu wissen gibt; dass wir alles beherrschen lernen müssen, was sich bisher unserem Zugriff entzogen hat; und dass alle Menschen an die eine Sache glauben, dem einen Herrscher dienen, der einen anerkannten Methode folgen müssen. Wenn nur alle Menschen an einem Strang zögen – alle nur täten, was wir für richtig halten –, dann wäre das Problem schnell gelöst. Sie wissen dabei sehr wohl, dass dieses Wenn für immer eine unerfüllbare Bedingung bleiben muss, und daher streben sie danach, alle Abweichler, Rebellen und Deserteure zu eliminieren. Man verweigert ihnen das Gespräch, schließt sie aus dem Diskurs aus, kündigt ihnen die Konten, wirft sie aus Heim und Wirkstätte, droht ihnen, beschimpft, bespuckt und misshandelt sie, beraubt sie ihrer Rechte und ihrer Würde, setzt sie gefangen, tötet sie und löscht sie dann aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein.
Die Geschichte der Zivilisation besteht zu nahebei einhundert Prozent aus autoritären Gesellschaftsformen. Demokratie ist eine Art Ausnahmezustand, ein Extremfall, bei dem ein großer Teil der Bevölkerung (ein bisschen) an der Willensbildung beteiligt ist, und der nichts desto weniger eine Mehrheitsdiktatur darstellt. Denn auch die Demokratie erachtet echte Meinungsfreiheit – epistemologische Gerechtigkeit – als existenzbedrohend. Wer aus dem Mainstream ausschert, riskiert empfindliche Sanktionen, wie man anhand der oben genannten Themen nachweisen kann. Wo wahrhaft antiautoritäre, egalitäre, libertäre Gemeinschaften entstanden, wurden sie aufs Blut bekämpft, im Keim erstickt und ihre Mitglieder aufs Grausamste hingeschlachtet. Denken wir an das frühe Christentum, die Stämme Amerikas, Afrikas und Australiens, die Levellers Mitte des 17. Jahrhunderts, die Pariser Kommune 1870, die japanischen Anarchisten des frühen 20. Jahrhunderts, die Ukraine in den 1920ern oder das Katalonien der 1930er.
Wenn die Megamaschine quietschend, ächzend, knirschend zum Halten kommt – vieles spricht dafür, dass dies gerade geschieht –, dann ergibt sich die historisch seltene Gelegenheit, ihr endgültig den Gnadenstoß zu versetzen. Wie es danach weitergehen soll, steht auf einem anderen Blatt. Selbstverantwortlich, selbstverständlich, auch wenn eine überwältigende Mehrheit sich das nicht im Ansatz vorstellen kann. Ein Ausdruck für eine regierungsfreie Form des Zusammenlebens heißt Akephalie, ein anderer Anarchismus. Es handelt sich um Gruppen von Menschen, die ihre Entscheidungen im Konsens treffen. Das hat über die mehrhunderttausendjährige Geschichte des homo sapiens hervorragend funktioniert. Es ist quasi Teil unserer Natur, so wie Nestbau und Schwarmbildung bei den meisten Vogelarten, und tritt daher spontan fast immer dann auf, wenn Regierung, Verwaltung und Militär der Zugriff auf die Menschen eines Gebiets abgeschnitten wird, etwa bei Katastrophen. Unser Problem heute besteht allerdings darin, dass man uns über die letzten Jahre und Jahrzehnte trainiert hat, Arbeiten und Entscheidungen an Spezialisten zu delegieren, niemand mehr zu vertrauen und überdies, wie oben beschrieben, jeden erbittert zu bekämpfen, der andere Ansichten als wir hat.
Wie kann die Cancel Culture beendet werden? Ich stelle mir vor, dass jene, die für lebendige Vielfalt einstehen, bewusst den Rückgriff auf bewährte Tugenden praktizieren. Es geht ja nicht lediglich darum, dass man das blöde Andere – die andere Meinung, das andere Wissen, das andere Aussehen, das andere Verhalten – zähneknirschend toleriert, man es also leben lässt, damit man selbst leben gelassen wird. Vielmehr bedarf es aktiver Pflege und Befürwortung bestimmter Werte, Tugenden und Techniken, die ein angstfreies, freudiges Miteinander ermöglichen. Ich erinnere mich an Zeiten, als Vertreter mehrerer Denkrichtungen einander still zuhörten, den Anderen ausreden ließen, widersprechende Argumente nicht nur aushielten sondern aufgriffen und sich zur Sache statt zur Person des Diskussionspartners äußerten. [Hier ein neueres Beispiel mit Gunnar Kaiser und Anselm Lenz.] Dabei konnte es schon auch deftig zur Sache gehen und es wurde auf eine Weise polemisiert, die nicht verhüllte, dass man gerade den Pfad der Sachlichkeit verließ. Ganz anders als heute war da eine Freude am Wort, am versteckten Witz, am provokanten Gedanken. Krasse Grenzverletzungen waren selten, aber das Spiel mit dem Grenzübertritt konnte zur beklatschten Pointe einer gelungenen sachbezogenen Argumentation werden.
Ich erinnere mich auch daran, dass ich im Deutschunterricht zahlreiche Aufsätze schreiben musste, die die gegensätzlichen Positionen zu einem gegebenen Thema argumentativ darstellten – These und Antithese – bzw. die verschiedenen Aspekte und Ebenen einer Thematik herausarbeiten sollte, bevor ich zu einem (begründeten) Schluss kommen durfte. Was man hierbei lernte, war nicht in erster Linie, wie man eine Auseinandersetzung gewinnt, sondern wie man relevantes Wissen zusammenträgt, es in eine nachvollziehbare Struktur bringt, den eigenen engen Blickwinkel überwindet, Zusammenhänge erkennt, Gemeinsamkeiten ebenso wie Unterschiede sieht, Implikationen prüft, Widersprüche aufdeckt, Argumenten Wertigkeit bzw. Wichtigkeit zuordnet und das große Ganze berücksichtigt. So können Argumente eine Wirkung entfalten, ohne der Begleitung durch Kraftwörter, Fäkalsprache und Flüche zu bedürfen, und ohne den geschätzten Gesprächspartner zum ideologischen Gegner zu machen, den man um jeden Preis – und sei es durch Entwürdigung oder Tötung – besiegen muss.
Natürlich verlief nicht jedes Gespräch so kultiviert. Nicht jeder hielten sich jederzeit an den ungeschriebenen Kodex oder besaß auch nur die nötigen Voraussetzungen dafür. Es war aber doch eine Zeit, in der man meist keine Angst vor Meinungsverschiedenheiten zu haben brauchte, weil man trotz allem Mensch oder Freund oder Ehepartner bleiben konnte, der respektiert, geschätzt oder geliebt wurde. Nach einem Streit ging das Leben in der Regel wie gewohnt weiter – miteinander.
Wo ich von Tugenden spreche, denke ich an Nicht-Anhaftung, Respekt, Geduld, Neugier, Wahrhaftigkeit.
Nicht-Anhaftung ist ein Begriff, der in asiatischen Kulturen eine zentrale Bedeutung hat. In der Psychologie würde man es vielleicht als Nicht-Identifikation bezeichnen: Mein Ziel, meine Meinung, mein Aussehen, meine Gruppenzugehörigkeit usw., das bin nicht ich; darum kann ich mich jederzeit von ihnen lösen. Wenn ich mich nicht mit ihnen identifiziere, brauche ich einen Angriff auf sie nicht als einen Angriff auf meine (wahre, eigentliche) Identität verstehen. Wenn sich meine Vorstellungen als falsch, meine Vorhaben als undurchführbar und meine Handlungen als unpassend herausstellen, darf ich sie ändern; es ist nichts dabei. Natürlich darf ich Ziele anstreben, mir etwas wünschen oder eine Sache der anderen vorziehen, an etwas glauben oder etwas theoretisch erörtern, aber ich hafte nicht der Vorstellung an, dass ich unbedingt richtig liege und genau das bekomme, was ich will. Mehr als jede moralisch befohlene Toleranz öffnet das den Geist für meinen wahren Platz in der Welt: als ein Pixel in einem globalen Mosaik. Zusammen ergeben wir Sinn.
Respekt ist ein aus der Mode gekommenes Wort. Als Begriff bezeichnet es die Achtung vor dem Anderen, dessen Be-Achtung und auch das Erweisen von Ehre ihm gegenüber. In Friedenszeiten beinhaltet Respekt die Anerkennung von Grenzen sowie der Existenzberechtigung des Anderen. In Konfliktsituationen bleibt der Gegner Mensch, ebenbürtig in seiner Würde. Er wird nicht zum Minderbemittelten, Unmensch, Untermensch, Tier oder Dreck herabgesetzt, selbst wenn man sich gezwungen sieht, ihn zu töten.
Geduld, obwohl man sie eigentlich (noch) nicht erklären muss, hat genau wie Respekt Seltenheitswert bekommen. Gut Ding will Weile haben, sagte man einst. Die ständige Beschleunigung des Alltags – der Computerisierung und dem Wettbewerb geschuldet – macht Geduld dagegen fast zu einer Untugend, zumindest aber zu einem Nachteil im Verteilungskampf um die besten Brosamen vom kleiner werdenden Kuchen oder die Schlacht um „die Wahrheit.“ Wie wir sehen gereicht uns Ungeduld zum Nachteil, denn Geduld wird benötigt, damit der Andere Raum zum Sein hat, Zeit hat, sich zu erklären, und auch Zeit, verstanden zu werden. Nur unter solchen Bedingungen entsteht die entspannte Atmosphäre, in der wir friedlich prosperierend zusammen sein können. Geduld ist also des weiteren die innere Ruhe, dank der man sich nicht aus dem Stand in eine Corona-Panik und danach innerhalb weniger Tage in eine Russophobie treiben lässt.
Neugier, die ich einmal als Kombination aus Offenheit und Aufmerksamkeit dem Neuen, insbesondere dem anderen Standpunkt gegenüber bezeichnen würde, hängt hiermit eng zusammen. Es geht bei der Neugier, die auf das Erkennen bzw. Verstehen des Anderen, noch Unbekannten abzielt, nicht darum, sich dessen Standpunkt zu eigen zu machen oder ihn zu rechtfertigen. Wer die Signale, die der Andere aussendet – Körpersprache, Verhalten und Aussagen, jetzt und früher – wahrnimmt, kann ungefähr nachvollziehen, weshalb dieser so ist, wie er ist, und so handelt, wie er handelt. Wenn man die Motivation des Anderen im eigenen Handeln berücksichtigt, kann man die Begegnung viel konstruktiver gestalten. Ob man die Waffe oder die Friedenspfeife zückt, hängt dann nicht davon ab, was der Andere tut, sondern warum er es tut. Die Aussicht auf ein beiderseitig befriedigendes Ergebnis steigt enorm.
Wahrhaftigkeit ist die Entschlossenheit, der Unwahrheit keinen Raum zu gewähren. Sie erfordert, sich schonungslose Rechenschaft über die eigenen Motivationen zu geben und das eigene Wissen zu hinterfragen. Wer wahrhaft denkt, spricht und handelt, handelt respektvoll und im Sinne der Gemeinschaft.
Selbstverständlich lassen sich andere Tugenden bzw. Werkzeuge finden, die sich nutzbringend und friedenstiftend einsetzen lassen. Ich glaube, bei Anwendung der genannten Tugenden befindet man sich auf einem gangbaren Pfad zur Überwindung der Cancel Culture. Deren Gegenteil sehe ich übrigens nicht in All-Inklusion, die, wäre sie möglich, den Tod jeglicher Kultur bedeutete. Das Gegenteil von Ausgrenzung ist guter Wille, der gemeinsame Nenner jeglicher Tugend überhaupt, und es fällt vielen unter uns ungeheuer schwer, ihn aufzubringen. Sollen sich doch erst einmal die Anderen bessern.
Wer etwas erreichen möchte, darf sich jedoch nicht darauf beschränken, es vom Anderen zu verlangen; er muss selbst den ersten Schritt unternehmen. Die Kardinaltugend des guten Willens ermöglicht, was in der dominanten Kultur unserer Tage völlig unerreichbar, ja paradox erscheint: Einigkeit in Vielfalt.