EIN menschliches Wort

EIN menschliches Wort

Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt im Auschwitz-Prozess, äußerte 1964 in einem Interview für den Hessischen Rundfunk, dass er auf „ein menschliches Wort“ von den Personen auf der Anklagebank gegenüber den überlebenden Zeugen und Zeuginnen warte, deren Familien vollständig ausgerottet worden waren. Die Opferfamilien, ganz Deutschland und die Welt könnten aufatmen [arte-Filmdokumentation „Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt, Nazi-Jäger“; 42:38]. Doch nichts dergleichen geschah. Zu Prozessbeginn plädierten sie alle auf „unschuldig” und blieben bis zum Schlussplädoyer dabei, auch wenn sie im Verlauf der Verhandlung eingestehen mussten, dass ihr Verhalten Leben gekostet hatte. Was hätten sie tun sollen? Befehl war schließlich Befehl.

Dasselbe geschah auch in den anderen Kriegsverbrecherprozessen: dem Nürnberger Hauptprozess, dem Nürnberger Medizinerprozess, dem Bergen-Belsen-, dem Ravensbrück-, dem Dachau-, dem Mauthausen-, dem Buchenwald-, dem Flossenbürg-, dem Mühldorf- und dem Eichmann-Prozess. Was hätte man sich vergeben – schuldig oder unschuldig –, wenn man Mitgefühl für die Schicksale der Betroffenen und ihrer Familien geäußert hätte, wie es in der persönlichen Begegnung nicht nur üblich sondern unumgänglich ist?

Wenn man davon ausgeht, dass die insgesamt wenigen Hundert, die vor Gericht zur Verantwortung gezogen worden sind, repräsentativ für eine Führungsebene stehen von der sich viele durch Flucht oder Suizid dem Zugriff der Justiz entzogen haben, wenn man weiter in Betracht zieht, dass zehntausende von Mitarbeitern aktiv direkt an der Vernichtungsmaschine mitgewirkt haben, und wenn man außerdem einbezieht, dass man im gemeinen Volk, das schweigend kollaboriert hat, bis Mitte der 1960er überhaupt nicht über die Kriegsvergangenheit reden konnte, dann darf man mit Fug und Recht behaupten, dass die juristische Aufarbeitung der NS-Diktatur nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen ist. Führende Nazis gelangten in beiden deutschen Staaten, Österreich und auch bei den Alliierten an lukrative und verantwortungsvolle Posten, was signalisiert, dass auch gesellschaftlich keine effektive Entnazifizierung stattfand. Ganz sicher aber ist, dass die psychologische Aufarbeitung, die Distanzierung und Versöhnung auf menschlicher Ebene praktisch vollständig unterblieben ist. Nirgends standen Täter zu ihren Taten während des Dritten Reiches.

Das lässt zwei mögliche Schlussfolgerungen zu. Erstens, dass die Kriegsverbrecherprozesse gigantische juristische Fehlurteile oder aber ebenso gigantische Rechtsmissbräuche produzierten – mit anderen Worten, dass die zum Tode Verurteilten tatsächlich unschuldig im Sinne der Anklage waren. Dies widerspricht dem Augenschein einer massiven Flut von Hinweisen, Zeugenaussagen und Beweisen sowie der schlichten Logik totalitärer Regime, wie sie sich auch andernorts beobachten lassen, und käme einer Holocaustleugnung gleich. Das möchte ich aus ontologischen und ethischen Gründen ausklammern. Die zweite mögliche Schussfolgerung scheint psychologisch ohnehin folgerichtiger und aus Erfahrung wahrscheinlicher: dass die Angeklagten – und mit ihnen alle, die aktiv oder passiv an den Verbrechen des Regimes beteiligt waren aber bis heute schweigen – unfähig sind, das Unrecht ihrer Taten vor sich selbst bzw. anderen einzugestehen, und dass sie daher unter gar keinen Umständen menschliche Regungen zeigen können, wie Fritz Bauer sie von im Kern anständig gebliebenen Leuten erwartet hätte, die einen Fehler begangen haben: Da kam keine Einsicht, kein mea culpa, kein Bedauern, keine Reue, keine Entschuldigung, keine Wiedergutmachung. Und Leute wie Günter Grass logen bzw. schwiegen ein Leben lang über ihre SS-Mitgliedschaft. Diese auffällige Abwesenheit menschlicher Regung im Angesicht gräulichster Verbrechen veranlasste Fritz Bauer, Hölderlin zu zitieren:

Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.

Das Dritte Reich ist beileibe keine Ausnahme. Gleiches gilt für aktive Mitwirkende an der DDR-Diktatur, in der Sowjetunion und den faschistischen Diktaturen Südeuropas, für die Kollaborateure in Frankreich, Quislinge in Norwegen, den BeNeLux-Ländern und aus den faschistischen und später realsozialistischen Vasallen Ungarn, Bulgarien, Rumänien usw. Es waren die Sieger, die einzelne Köpfe des gestürzten Regimes in Schauprozessen ausstellten und dann öffentlichkeitswirksam rollen ließ. Eine Sühne, eine Versöhnung gab es nicht, und daher keinen Neuanfang. Im Gegenteil: Helmut Kramer, ehemals Richter am Landgericht Braunschweig, berichtete darüber, dass sich im Volk Ressentiments gegen den emigrierten Verfolgten und Regimegegner gebildet hatten, weil diese sich angeblich „ihrer Verantwortung entzogen“ hätten. Bauers Hoffnung, dass die völlige Diskreditierung des Antisemitismus nun endlich Versöhnung zwischen Juden und Nichtjuden ermögliche, platzte womöglich, weil die Täter davon ausgingen, ihre Opfer seien dazu gar nicht in der Lage. Dabei waren es die Täter und ihre Mitläufer, denen es sowohl an Empathie als auch Phantasie und damit am Willen mangelte, mit der Vergangenheit, den Opfern, den Emigranten und den Widerständlern Frieden zu schließen.

Das lässt mich Übles ahnen, wenn ich an die Zeit nach der Corona-Diktatur denke. Denn den Vergleich mit Deutschlands Terrorjahren anzustellen bedeutet für mich nicht nur, ihre Entstehungsbedingungen, ihre Unterdrückungsmechanismen und Gewaltmanifestationen anzusehen, um deren Pendants in der Gegenwart richtig einschätzen zu können, sondern auch, über ihr Ende und ihre Aufarbeitung nachzudenken.

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer pd
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer

Angesichts der fatalen Nachkriegsjahre steht zu befürchten, dass Parlamentarier, die für das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben, das angesehenste Amt im neuen Staat übernehmen, dass Folterdoktoren Ärztekammern leiten, dass Kriegsingenieure auch weiterhin destruktive Technologien bereitstellen, dass gewöhnliche Blockwarte zu Bürgermeistern werden, die Spitzel von einst auch weiterhin die Regierung gegen das Volk verteidigen, Prügelmobs zu Polizisten werden, Justizmörder nun Recht sprechen sollen, ein Mitglied der alten Junta eine Landesregierung leitet, oder Bauchpinsler des Ancien Regimes das Volk auch nach der Stunde Null noch einlullen dürfen, wie das in der jungen BRD geschehen ist. Entsprechende Personalien in unserer Zeit zu identifizieren bereitet kaum Schwierigkeiten. Schwierig wird es eher sein, die beleidigt schweigende Mehrheit davon zu überzeugen, nicht wieder in dieselbe Falle zu tappen, sondern sich einer anderen möglichen Realität zu öffnen: der Konvivialität (wörtlich: dem Mit-Einander-Leben), die sich verabschiedet von der Entmündigung durch Massenproduktion und von der Institutionalisierung aller menschlicher Aktivitäten, vom Lernen über die Mobilität und die Verteilung von Gütern bis hin zur Gesundheitsfürsorge und der Feier des Glaubens.

Was mich zuversichtlich stimmt, ist die für deutsche Verhältnisse hohe Anzahl von Gruppen, die sich als Antwort auf die sich zuspitzende Barbarei gegründet haben; sie bemühen sich, der blinden Regelbefolgung mit Aufklärung und Appellen ans Mitgefühl zu begegnen. Es fällt auf, dass neben zahlreichen quasi-religiösen Reaktionen – von Totschweigen über Lächerlichmachung, Tatsachenverdrehung, persönlicher Verunglimpfung, existenzieller und gewalttätiger Bedrohung bis hin zu tatsächlichem „Deplatforming“, Prügeln, Inhaftierungen und Mordanschlägen – keine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Maßnahmenkritiker erfolgt. Darum muss ich an dieser Stelle, und hoffentlich nur vorläufig, meinen Text mit der auszugsweisen Fortsetzung von Fritz Bauers Hölderlin-Zitat abschließen:

Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst mit Sklavenmühe dem wüsten Herzen abgerungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die […] den Misslaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen. […] Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden um des Austernlebens willen alle Schmach, weil Höheres sie nicht kennen, als ihr Machwerk, das sie sich gestoppelt. […]

Ich sprach für alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten.

Ich wollte nun aus Deutschland wieder fort. Ich suchte unter diesem Volke nichts mehr, ich war genug gekränkt, von unerbittlichen Beleidigungen, wollte nicht, dass meine Seele vollends unter solchen Menschen sich verblute.

Doch Hyperion kehrt zurück, nicht um des Volkes sondern um seiner Liebsten und um des schönen Landes willen. Und er bemerkt versöhnlich:

Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. (Friedrich Hölderlin: Hyperion, 2. Buch Tübingen, Cotta, 1799)

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