In meinem Blog Ein neues Nürnberg habe ich angemerkt, dass ich mit den Menschen durch bin – naja, in dem Maße, in dem sich ein soziales Wesen tatsächlich von seinen Mitmenschen distanzieren kann. Es hat ganz klar seine Grenzen und ist traurig und dumm genug, aber das ist mein Gefühl in diesen Zeiten. Wenn sich die Zeiten ändern, ändert sich wohl auch die Stimmung.
Ähnliches gilt für die Wissenschaft. Ich bin fertig mit ihr, in dem Maße, in dem ein lebendes, intelligentes, neugieriges Wesen sich tatsächlich von seiner eigenen Wahrnehmung trennen kann. Denn wenn ich sage: „Ich bin fertig mit der Wissenschaft“, dann will ich damit nicht sagen, dass ich nicht mehr neugierig das Verhalten der Wildtiere um mich herum verfolge, oder dass mich der Nachthimmel nicht mehr fasziniert, oder dass merkwürdige Ansichten, die ich von anderen Menschen und den Medien aufgeschnappt habe, nicht mehr mein Interesse wecken. Wenn ich sage, dass ich mit der Wissenschaft fertig bin, dann meine ich damit, dass ich genug habe von der Institution der Wissenschaft – dem Akademikertum – und seinen sinnlosen Entdeckungen, von denen schon meine Großmutter wusste, ohne dass sie Millionen für Gutachten ausgegeben hat, oder die oft keinerlei Bezug zu meinem Leben haben. Ich bin definitiv fertig mit dem Szientismus – der Volksreligion mit ihren Sprüchen wie: „die Wissenschaft hat festgestellt“, „Die Experten haben gesprochen“, „Es steht in einem Buch“, und „Ich habe einen Doktortitel, was hast du?“
Ich bin fertig mit den Menschen, weil sie bis zum Wahnsinn zivilisiert sind, und ich bin fertig mit der Wissenschaft als dem arroganten Ausdruck dieses Wahnsinns. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo Menschen die Fakten, die sie von irgendeinem Medium aufgeschnappt haben, dazu benutzen, andere in die Unterwerfung zu zwingen, also ganz eindeutig nicht mehr neugierig und offen sind. Und das sehe ich als ein Problem. Denn Seifenpolizei, Skeptiker-Bewegung, Antifa, Woke-Szene und Cancel Culture, in denen der Wahn u.a. kondensiert, gefährden massiv das Miteinander in der ohnehin schwer fragmentierten Gesellschaft.
Wissenschaft ist…
Wissenschaft ist nicht das Wissen als solches. Wissenschaft ist der Prozess, durch den man verstehen lernt, wie die Welt funktioniert, Wissenschaft ist das Resultat von Neugier, und Neugier ist eine Form von Offenheit. Solange das gesammelte Wissen im Rahmen des Gesamtverständnisses einer Kultur einen Sinn ergibt, webt die Wissenschaft deren kosmologisch-weltanschaulichen Teppich. Auf diese Weise schafft auch unsere Kultur ihre Mythen. Das Wort „Mythen“ bedeutet nicht „Fiktion“ oder „Märchen“, sondern ist ein anderes Wort für die Geschichten, die uns helfen, dem Universum und unserem Platz darin einen Sinn zu geben. Verschiedene Völker haben verschiedene Geschichten; keine von ihnen ist wahrer als die einer anderen Kultur, aber jede von ihnen ergibt für das jeweilige Volk innerhalb seines Rahmens aus Lebensraum, Kultur, Denkmustern, Sprache und Wahrnehmung perfekt Sinn.
In einer wirklich freien und partizipatorischen Gruppe von Menschen hilft jeder Einzelne mit, die Mythen des Volkes zu erschaffen, und interessanterweise scheinen die daraus resultierenden Geschichten umso länger zu halten, je weniger physische Technologie die Menschen in ihrem täglichen Leben anwenden – oft viele Hunderte, manchmal Tausende von Jahren. Hingegen lösen „wissenschaftliche Revolutionen“ einander innerhalb von Jahrzehnten ab und lassen frühere wissenschaftliche „Erkenntnisse“ veraltet oder sogar falsch erscheinen. Es ist nicht so schwer zu erkennen, dass auch unsere gegenwärtigen wissenschaftlichen Ansichten im Grunde nur vorübergehender Natur sind. Die Vorstellung, dass „Krankheiten“ durch „Keime“ „verursacht“ werden und dass „Heilung“ durch das Abtöten dieser Keime zustande kommt, wird beispielsweise zu den nächsten Gewissheiten gehören, die den Abfluss der Zeit hinuntergehen. Ivan Illich (Die Nemesis der Medizin; siehe meinen Blog-Beitrag „Medical Nemesis: compulsory survival in a planned and engineered Hell„) hat einige der historischen Etappen nachgezeichnet, die zu unserem heutigen Verständnis von „Gesundheit“ geführt haben, und vor den Folgen gewarnt, wenn wir diesen Weg weiterverfolgen. Charles Eisenstein hat in seinem Buch The Ascent of Humanity (siehe meinen Blogbeitrag „Charles Eisenstein – The Ascent of Humanity„) eine Reihe von Bereichen beschrieben, die auf den richtigen Augenblick warten, um den Übergang zu einer neuen Art von Wissenschaft zu vollziehen.
Was mich an der Sache am meisten interessiert, ist nicht so sehr, worauf die zukünftige Wissenschaft basieren wird, welche Art von Wissen sie offenbaren wird, oder welche neuen Technologien aus einer neuen Wissenschaft resultieren werden. Das sind eher müßige Fragen, denke ich, nett für eine Diskussion mit Freunden in einer langen Nacht des Gedankenspiels. Die dringendere Frage ist für mich, wie ich heute in einer Gesellschaft von Experten-Groupies ein einfaches Leben führen kann, ein Leben, das frei ist von Tech-Gurus, unnötigen Komplikationen und auf den Kopf gestellter oder kryptischer Sprache; ein Leben, in dem ich aus eigener Kraft Dinge wahrnehme, Wahrgenommenes erkenne, Erkanntes verarbeite, Verarbeitetes definiere und Definitionen in Handlungen umzusetze, so dass die Welt für mich ebenso Sinn ergibt wie meine Existenz in ihr.
Sapere Aude!
Der Ausgangspunkt für diese Herausforderung ist natürlich der Mut – die Kühnheit, selbst zu forschen, der Mut, selbst nachzuschauen, die Tapferkeit, selbst Schlussfolgerungen zu ziehen.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude [wage es verständig zu sein]! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“– Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?: Berlinische Monatsschrift, 1784, 2, S. 481–494
Die Sprache mag ein wenig veraltet klingen – offenkundig auch identitätspolitisch inkorrekt –, aber die Botschaft ist dennoch klar. Wer sind also die Leute, die dich niedermachen, wenn du deine eigenen Erkenntnisse präsentierst, die nach deiner Legitimation fragen, wenn du zu deinen eigenen Schlussfolgerungen kommst, und die versuchen, dich daran zu hindern, nach deinen eigenen Erkenntnissen zu leben? Logischerweise und erfahrungsgemäß sind das die devoten Diener des Etablierten, die Jünger der Religion des Szientismus, die unaufgeklärten Anbeter des fettarschigen Experten-Gurus. Damit wir uns hier nicht missverstehen: Ich wettere keineswegs gegen Leute, die nach sorgfältiger Recherche zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen kommen, wie die sogenannten Experten, und ich verunglimpfe auch nicht diejenigen, die sich besonders tief in eine Materie eingearbeitet haben, indem sie offizielle akademische Mittel zu ihrer Untersuchung benutzt haben. Es geht mir um die Selbstermächtigung zu freiem Denken, den Mut, sich aus der geistigen Bevormundung zu erheben, wenn man es will oder muss – und die Tatsache, dass man grundsätzlich in der Lage ist, dies zu erreichen. Es ist für einen gewöhnlichen Menschen absolut möglich, sich wieder mit seinen angeborenen Fähigkeiten zur Orientierung in der natürlichen Welt zu verbinden und im Zusammenspiel mit der eigenen Gemeinschaft sinnstiftende Mythen oder Geschichten zu erfinden. Es liegt auch durchaus im Rahmen unserer Fähigkeiten, die Funktionsweise der menschlichen Welt zu durchschauen, die Schleier des Expertenjargons zu zerreißen und die Zahnräder und Hebel, die unsere Gesellschaft und ihre Teilbereiche treiben, auseinanderzunehmen und neu zu ordnen.
Ist das tatsächlich möglich? Nun, ich könnte auch fragen: Haben die Fugger BWL studiert? Hat Schiller an Lehrgängen zu kreativem Schreiben teilgenommen? Waren die Brüder Wright Professoren für Luftfahrtingenieurswesen? War Goethe Professor für alles? War George Washington Politologe? Hat Jesus Theologie studiert? Buddha Religionswissenschaften? Howard Carter Archäologie? Wann waren je Experten am Werk, wenn große Sprünge vollbracht wurden?
Juristische Implikationen
Seit letztem Jahr hat sich eine Redensart eingebürgert, derzufolge jeder ein Experte für Recht und Medizin geworden ist. Einige der Redner wollen damit die Fähigkeit von Nichtfachleuten, den Wust an dazugehörigem Wissen zu durchschauen zu können, lächerlich machen; andere benutzen den Spruch in seiner wörtlichen Bedeutung: Wir haben gelernt, manche Dinge gründlich zu verstehen, weil wir es mussten. Und nur so kann eine aufgeklärte, demokratische, weise, anarchische oder akephale Gesellschaft funktionieren: indem wir uns in die Materie vertiefen und den gesunden Menschenverstand einsetzen.
Als Staatsbürger beispielsweise ist man Souverän und trägt daher Verantwortung für die Vorgänge. Wie will man das tun, wenn man sie grundsätzlich nicht verstehen kann oder zumindest zu verstehen versucht? Man könnte noch nicht einmal die richtigen Personen in entsprechende Positionen wählen, denn woher wollte man wissen, ob sie ausreichende Kompetenzen besitzen?
Und was das Recht betrifft: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Man kommt also kaum umhin, Verfassung, Gesetze, Verordnungen und Gerichtsentscheidungen zu verstehen. Wenn das für den Normalbürger grundsätzlich unmöglich wäre, lebten wir in einem Willkürstaat, der uns statt Begründungen für sein Handeln mit Fachchinesisch bewirft und von uns fordert, Verantwortung für Taten zu übernehmen, über deren Legalität wir keinen blassen Dunst haben.
Aus all dem ergibt sich die Ablehnung des Expertenkults. Wer sich seines Verstandes nicht bedient, ist weder ein mündiger Mensch noch ein mündiger Staatsbürger und damit kein Souverän. Er lässt sich von anderen vorschreiben, was er wie zu sehen hat – im besten Fall. Im schlechteren Fall kümmert er sich gar nicht um die Dinge, die ihn betreffen, sondern überlässt sie völlig den Experten. Dumme Menschen sind die besten Mitläufer. Da stellt sich das Problem, dass Expertentum und Szientismus mit Universalismus einhergehen, dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit des eigenen Standpunktes, und dass Universalismus unausweichlich in der Forderung resultiert, dass alle im Gleichschritt marschieren müssen. Die Bestrafung Andersdenkender, die Folterung von Ketzern und der Krieg gegen das Andere lauern da natürlich gleich um die Ecke. Wie mir scheint, haben wir jene Ecke soeben erreicht…