Hemd und Rock rücken enger zusammen

Hemd und Rock rücken enger zusammen

Ich denke, wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir es hinsichtlich sogenannter Terroristen nicht lediglich mit Leuten mit einer politischen Agenda zu tun haben, sondern mit Überzeugungstätern, d.h. Leuten, die weder gekauft noch überredet werden können. Die Hauptantriebsfeder könnte in den weitaus meisten Fällen – und das trifft sicherlich auf Selbstmordattentäter zu – ein tief sitzender Schmerz über die Zustände um sie herum sein. Dass sich ihr Hass ausgerechnet gegen uns Deutsche richtet und an Privatpersonen austobt, wundert mich nicht weiter. In dem Maße, wie wir „unseren Wohlstand am Hindukusch verteidigen“ und wie das Töten dort eine Zivilbevölkerung trifft, die sich grundlos und wahllos angegriffen fühlt, werden wir mit einer entsprechenden Reaktion leben müssen. Im Grunde setzt sich an Orten wie dem Breitscheidplatz in kleinem Maßstab fort, was als staatlich organisierter Massenmord in Bagdad, Kundus oder Aleppo begonnen hat. Der Versuch, solchen Vorkommnissen mit staatlicher oder militärischer Gewalt zu Leibe zu rücken, führt daher unausweichlich zu einer Eskalation der Lage. Ich würde nicht darauf wetten, dass Terrorismus gezwungenermaßen oder von sich aus endet, also nur ein vorübergehendes Phänomen ist. Dafür ist er schon ein paar Jahrzehnte zu lang Teil des Zeitgeistes. Ich möchte mit Daniel Quinn sogar behaupten, dass Terrorismus zu jenen Plagen gehört, deren Anzahl und Intensität mit fortschreitender Zivilisierung des Planeten zunimmt.
Vorausgesetzt, es liegt nicht im besten Interesse der Mächtigen, dass diese Bluttaten stattfinden, was es ihnen erlaubt, Feindbilder zu definieren und ihre Bevölkerung noch enger in den Würgegriff zu nehmen. Es ist nicht abzuleugnen, dass solche Vorkommnisse zumindest zu diesem Zweck ausgeschlachtet werden, wie unmittelbare Reaktionen der Politik auf den LKW-Angriff und die Geschichte seit 9/11 gezeigt haben.
William Perry, ex-US-Verteidigungsminister, erläutert in seinen unlängst erschienenen Memoiren, „My Journey at the nuclear brink“, dass technische Innovationen, Privatprofite und Steuergelder, zivilies Technikspielzeug und Massenvernichtungswaffen, Satellitentechnik, Computer und die sich ständig ausweitende Überwachung sehr viel miteinander zu tun haben.
Das Sprichwort, dass uns das (europäische) Hemd näher wäre als der (arabische) Rock, ist am Breitscheidplatz auf Kosten von Menschenleben einmal mehr falsifiziert worden.
Manch einer mag denken, ich wolle hier terroristische Gewalt rechtfertigen oder Partei für einen der Kontrahenten im Kampf der Kulturen ergreifen.
Mitnichten.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass Gewaltanwendung, auch wenn sie einen evolutionären Zweck erfüllen mag, nicht dazu geeignet ist, anderer Gewalt zu trotzen, die in großem Maßstab begangen wird. Die Mehrheit der Menschen ist allerdings nicht bereit, auch nur ansatzweise über Alternativen nachzudenken. Jene, die ihre innere Blockade diesbezüglich durchbrochen haben, kennen die Antwort bereits und praktizieren sie. Andere mögen folgen, wenn die durch das Gewaltparadigma verursachte Totalzerstörung ein Umdenken erzwingt – falls dann noch jemand lebt.

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