Ketten-Reaktion

Ketten-Reaktion

Die Zeiten, als wir Europäer hochnäsig mit dem Finger auf anderer Länder Regierungen zeigen und sie Diktaturen nennen konnten, nur weil jene es versäumt hatten, sich mit dem Westen gutzustellen – diese Zeiten sind vorbei. Wenn Staatseigentum (und damit Volkseigentum, denn nominell ist das Volk der Souverän) an windige Geschäftemacher verscherbelt wird; wenn rücksichtslos Schulden gemacht werden, während Großverdiener Steuererleichterungen erhalten; wenn an Kultur, Sozialem und Bildung gespart wird, damit mehr Geld für Industrie und Banken übrig bleibt; wenn Mundraub schwer bestraft wird, während Bilanzfälschung sich dank teurer Anwälte lohnt; wenn die Politik dem Kapital nach dem Mund redet, während der Volkswille ignoriert wird; wenn die Versammlungen der Mächtigen mit militärischen Mitteln geschützt werden, während man Demonstrationen gewaltsam auflöst – dann hilft irgendwann auch die rosarote Brille nichts mehr, mit welcher wir bisher unsere Situation betrachtet haben: Demokratie unterscheidet sich lediglich in Nuancen von den sogenannten Diktaturen. Sie ist ein Deckmäntelchen, ein Schafspelz der Legitimität zur Verkleidung wölfischer Besatzungsregierungen, deren korrekte Bezeichnung Plutokratie lauten müsste.

Und Besatzungsregierungen sind alle Regierungen von Anbeginn der Zivilisation gewesen, wo immer sich eine Minderheit anmaßt, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen. In Zeiten der Marktwirtschaft sind sie überdies Marionettenregierungen, weil der oktroyierte Wille nicht mehr dem politischen Hirn entspringt, sondern der Feder besitzender Stände.

Der Volksmund spottet zwar seit langem, dass sich das Recht auf Seiten der Reichen, und die Macht in den Krallen des Kapitals befindet. Solange wir jedoch wenigstens die Krümel vom Kuchen der unheiligen Allianz zwischen Politik und Geld abbekamen, waren wir zufrieden. Wir haben Wirtschaftsinteressen – nach Gottesgnadentum, Blutadel und Verfassungsmäßigkeit – als moderne Form der Legitimierung von Fremdherrschaft akzeptieren gelernt, denn es funktionierte ja immerhin für uns.

Scheinbar. Die selben Mechanismen, über die wir uns heute erzürnen, sind seit der Renaissance aktiv. In seiner heutigen Form besteht das Finanzsystem seit etwa einhundert Jahren. Nun, da die nötigen Ressourcen knapp werden, mit Hilfe derer sich das System Heuschrecke am Leben erhalten konnte, und sich der weitaus größte Teil aller Güter in Händen weniger Familien befinden, zeigen sich Risse im Lügengebäude von Fortschritt und Wohlstand, wird die Luft langsam dünn für’s gemeine Volk, kommt der Hunger ins Herz des Imperiums: nach Europa und Nordamerika.

In all unserer Wellness haben sich die Wenigsten von uns Gedanken darüber gemacht, ob die Grundlagen unseres Wohlstandes wohl morgen noch zur Verfügung stünden. Wir haben uns an die Vorstellung gewöhnt, dass mit Geld alles zu bekommen ist und dass man sich nur Arbeit suchen muss, um Geld zu erhalten. In den Jahrzehnten seit den 70ern, als Massenarbeitslosigeit zum stets größer werdenden Dauerphänomen geriet, haben wir uns der Illusion hingegeben, dass wir nur mit genügend Geld um uns werfen müssten, um das Problem zu lösen. Wir müssten nur die Wirtschaft in die rechten Bahnen lenken, doch leider, leider versagte die Politik in jeder vergehenden Legislaturperiode erneut.

Erstmals seit 1968 gibt es nun Großdemonstrationen unter dem Motto „Das Problem ist nicht die Regierung, sondern das System“ (Spanien Anfang Mai 2011), nur dass der Protest diesmal von weiten Teilen der Bevölkerung getragen wird. Es ist nicht nur eine Studentenrevolte, nicht nur rebellische Jugend, welcher der Wohlstand zu Kopf gestiegen ist. Es sind nicht nur ein paar Intellektuelle, die sich den Luxus bewaffneter Revolution leisten möchten. Mit der Plünderung der Staatskassen, der Senkung von Löhnen, der Erhöhung von Steuern, Massenentlassungen und der Streichung von Sozialleistungen steht die Existenzgrundlage jedes einzelnen Bürgers auf dem Spiel, denn Geld ist in den Gesellschaften unserer Tage das einzige Mittel, mit Hilfe dessen wir unsere Grundbedürfnisse nach Wasser, Nahrung, Kleidung und Obdach decken können. Selbst wenn jeder wüsste, wie das aus eigener Kraft zu leisten ist (weißt du’s?), wären sie uns verwehrt, denn natürlich bekommt man auch die dafür benötigten Rohstoffe nur gegen Bezahlung.

Erdrutschartige Siege von Linksregierungen in Lateinamerika nach Jahrzehnten der Ausbeutung durch Kapitalanleger; Verdoppelung der Reispreise in Südostasien gefolgt von einem Bürgerkrieg in Thailand; Streiks und Massendemonstrationen in Indien, nachdem die Lebensmittelpreise innerhalb eines Jahres um 35% gestiegen sind; Volksaufstand in Tunesien und eine Jugend, die trotz hervorragender Bildung keine Arbeit bekommt; dasselbe Bild in einem Dutzend weiterer Staaten des nahen Ostens; 50% Jugendarbeitslosigkeit sowie 1,5 Millionen Familien ohne Ernährer gefolgt von Massenprotesten in 60 spanischen Städten; ähnliche Zustände in Griechenland im Angesicht eines drohenden Staatsbankrotts. Und so weiter.
Ich sehe ein Muster, das all diese Unruheherde verbindet. Eines, das sich auf steigende Rohstoffpreise bezieht, auf die Spekulationen von Krisengewinnlern, die stets in solchen Situationen auf den Plan treten; will sagen: in Zeiten schwindender Ressourcen.

Während praktisch die gesamte systemkritische Szene (spätestens) seit der sogenannten Finanzkrise von 2008 den endgültigen Zusammenbruch der globalisierten Wirtschaft innerhalb weniger Jahre erwartet, erscheinen Themen wie „Peak Oil“, „Dollarkrise“, „Schuldenkrise“ und „Niedergang des amerikanischen Übersee-Imperiums“ erst dieses Jahr auch in Mainstreamblättern. Es sollte den noch-immer-Optimisten zu denken geben, dass sich Medien wie das Wall Street Journal oder die Süddeutsche Zeitung damit befassen. Vor dem Hintergrund von Peak Oil liest sich die Telepolis-Meldung vom 25.5.2011, „Ein großer Stromausfall könnte eine nationale Katastrophe sein„, doch etwas anders, als wenn man eine der dort angegebenen unwahrscheinlicheren Ursachen annimmt. Deutschland trennt viel weniger vom Absturz in post-industrielle Gefilde, als dem Wohlstandsbürger lieb ist.

Und ich muss mich wundern, weshalb noch immer Studien erscheinen, welche die Produktionssteigerung bis 2020, die Rentenentwicklung bis 2035, den Energieverbrauch bis 2050 oder die Bevölkerungsentwicklung bis 2100 prognostizieren. Für diese Hochrechnungen gibt es keinerlei vernünftige Datengrundlage. Man darf vermuten, dass ihre Verfasser das Phänomen Peak Oil bewusst ausklammerten; ein Phänomen, das eigentlich Peak Everything heißen sollte, selbst wenn Ackerland, Kupfer, Fisch, Holz, Artenvielfalt, Kohle, Erdgas, Uran, Trinkwasser und vieles Andere nicht schon heute knapp wären. Mit dem Ende billigen, leicht förderbaren Öls endet nämlich auch unsere Fähigkeit, die Mehrzahl all jener Rohstoffe zu fördern bzw. all jene Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die wir zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstils benötigen. Plastik, Düngemittel, Pestizide, Ferntransporte, Telekommunikation, Glas, Zement, Stahl, Gummi usw. werden innerhalb weniger Jahre völlig unerschwinglich werden, weil die zu ihrer Herstellung notwendige Energie schwindet und damit immer teurer wird. Ohne Sprit in den Tanks von Baggern, Bohrern, Lastwagen und Schiffen schließen sich auch andere Energiequellen. Eine Abwärtsspirale, die in den nächsten zehn Jahren alles auf den Kopf stellen wird.

Verschärfend kommen der drohende Dollar- und der Euro-Zusammenbruch hinzu, welche wohl kaum noch länger als zwei Jahre auf sich warten lassen dürften. Die Fähigkeit des Westens, sich die nötigen Ressourcen anderswo in der Welt zu beschaffen, ruht auf sehr, sehr wackligen Beinen. Damit steht der soziale Friede nicht nur in den schuldengebeutelten Ländern Südeuropas auf der Kippe, sondern auch in USA, Australien, Japan, Frankreich, Schweden und Deutschland. Die gefühllose, unverfrorene Arroganz, mit der eine Frau Merkel heute über die Leistungsbereitschaft der griechischen Bevölkerung urteilt, wird sie dann besser nicht noch einmal zur Schau stellen. Protestbewegungen in aller Herren Länder trommeln die Unzufriedenen zusammen, und diese, an den goldenen Ketten der Lohnsklaverei rüttelnd, folgen dem Ruf nur nur zu gern. Widerstand steht auf der Tagesordnung, auch in den „reichen“ Staaten. Manche haben’s nur noch nicht bemerkt.

Denn die Auffassung, dass zum Beispiel die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Griechenland nichts mit den Unmutsbezeugungen in anderen europäischen Staaten zu tun habe, erst recht nichts mit den Revolutionen im Maghreb, ist zwar weit verbreitet, verstellt jedoch den Blick auf Trends und Zusammenhänge, die später, im historischen Rückblick, völlig offensichtlich erscheinen werden: Dies sind keine Einzelereignisse, sondern Teile einer Kettenreaktion. Wie Dominosteine fällt ein Land nach dem anderen in den Ausnahmezustand, wenn der gemeinsame Nenner gegeben ist. Die Unabhängigkeitsbewegung der Balkannationen vom osmanischen Joch Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise lief ähnlich ab, genauso die Entkolonialisierung Afrikas in den 1960ern oder auch die osteuropäische Wende in den 1980ern. Niemand außer den dortigen Machthabern würde behaupten wollen, die chinesische Tienanmen-Revolte hätte nichts mit dem Moskauer Frühling zu tun gehabt. Wer die Ohren spitzt wird rechtzeitig erfahren, was die Stunde schlägt.

Ein schöner Titel für diesen Eintrag wäre daher auch „Völker, hört die Signale (Auf zum letzten Gefecht)“ gewesen, aber vermutlich hätte dann niemand außer ein paar Marxisten mehr weiterlesen wollen. Nun, die Zeichen stehen deutlich genug an der Wand. Die nächsten zwei bis drei Jahre sind entscheidend für unsere Vorbereitungen. Wir können uns an ein energiereduziertes, lokal organisiertes, sozial vernetztes, biologisch nachhaltiges Leben gewöhnen, solange wir eventuelle Rückschläge noch auffangen können – oder wir werden es in den folgenden zehn Jahren auf die harte Tour lernen: dass Sprit unerschwinglich wird, wie in der Folge auch alles andere, das wir von überallher ankarren lassen, wie Äpfel, Orangen, Meeresfrüchte, Möbel, Kleidung; dass die Wohnung unbewohnbar wird, weil kein Wasser mehr fließt, kein Strom mehr da ist und keine Fern- und Zentralheizung mehr funktioniert; dass uns der Supermarkt nicht mehr mit Lebensmitteln versorgt.

Da es inzwischen selbst die Spatzen von den Dächern der Mainstream-Medien pfeifen, Peak Oil also quasi von höchster Ebene eingestanden wird, fehlt jede Berechtigung so zu tun, als sei die bevorstehende Wende lediglich ein Hirngespinst von Endzeitspinnern. Zwar sprechen die Besatzer von einer „Energiewende“, von „grünen Technologien“ und noch immer wird so getan, als werde es eines Tages möglich sein, dass alle Menschen nach westlichem Standard leben, doch die dafür veranschlagten Zeiträume sprengen den Rahmen, den Peak Oil vorgibt. Und woher man die Mittel dafür nehmen will, lässt man selbstverständlich im Unklaren. Die Wahrheit ist: Die Mittel werden nicht genügen. Dem Himmel sei Dank! Jeden Tag, an dem sich die Erde in den Klauen der Besatzer befindet, verschwinden mehr als 500 Arten – für immer. Je früher der Hochofen aus ist, desto besser.

Im Großen und Ganzen sehe ich den Kollaps der Öl-Zivilisation ungeachtet seiner möglichen Kosten als wünschenswert im Namen allen Lebens auf der Erde an. Es ist dies nicht der Wunsch des fanatischen Revoluzzers, der für seine Luftschlösser gern einmal ein paar Millionen Seelen opfert, sondern eines Realisten, der sieht, dass das Ende eine absehbare, notwendige, im System selbst angelegte Phase in dessen Lebenszyklus ist, die am Ende der Ressourcen von selbst eintritt – nur mit unvergleichlich höheren Opfern. Unser von Wachstum abhängiges Wirtschaften konnte nicht von Dauer sein. Das war den Weiseren unter uns seit Jahrhunderten klar. Doch je früher wir den Besatzungsregierungen die Gefolgschaft entziehen, desto mehr fürs Überleben essenziell wichtige Dinge werden ihren Plünderungscampagnen entgehen, desto weniger drastisch werden die Folgen ihrer Räuberei ausfallen (sie sind bereits gravierend genug) und desto bessere Bedingungen werden unsere Nachfahren vorfinden. Genügend dichte Ozonschicht, niedrigeren Meeresspiegel, größere gesündere Wälder, sauberes Wasser und genetisch unverfälschtes Saatgut beispielsweise… Rotkehlchen, Wale, Wildfrüchte… Der Untergang des Systems ist daher eine Chance. Eine Katastrophe ist er nur für jene, die auf seine Fähigkeit zu unbegrenztem Wachstum und technischem Fortschritt vertrauen. Sie werden es versäumen, sich auf eine neue Lebensweise vorzubereiten und ungebremst ins offene Messer laufen.

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