Drum prüfe, wer sich ewig schindet,…

Drum prüfe, wer sich ewig schindet,…

(In Antwort auf einen Kommentar zum Eintrag “50 leckere Gerichte mit Sperma“)

Eine “grüne” Partei ist in Stuttgart an den Drücker gekommen. Du weißt, das hat wenig zu bedeuten. Diesen Leuten sind im Rahmen ihrer verfassungsgemäßen Aufgaben genauso wie uns Bürgern die Hände gebunden, selbst wenn sie tatsächlich allein das Gemeinwohl im Sinn hätten. Nur: Wenn sich keine wesentlichen Änderungen einstellen, nachdem wir das Kreuz an der “richtigen” Stelle gesetzt haben, wozu dann überhaupt wählen gehen? Damit man später einen Schuldigen bennenen kann? Weil niemand in Sachen Einkommenssteuer, Afghanistankrieg, Autobahnbau oder CO2-Verpressung auf uns hört und Parlamentswahlen die einzige Möglichkeit sind, im Rahmen des Systems “mitzubestimmen”? Stimmst du wirklich über ein Programm ab oder geht deine Stimme an ein paar warme Worte verloren? Wann hat sich je eine Partei exakt an ihr Wahlprogramm gehalten? – Vergiss die Politik. Der Fehler liegt im System. Also müssen wir das System entweder ändern oder umgehen. Ich werde später noch darauf eingehen, warum ersteres keine Option ist.

So wie du tun die meisten Deutschen all die Dinge, die ich im Essay stellvertretend für den Western way of life aufgezählt habe. Sie arbeiten, um Geld zu bekommen um konsumieren zu können. Jeder Atemzug ein Beitrag zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung. Ich selbst habe aufgehört, sie mitzutragen, möchte an dieser Stelle jedoch betonen, dass ich niemanden dafür verurteile. Ich habe gelernt, dass es “richtig” und “falsch” nur im Zusammenhang mit den jeweiligen Zielen gibt. Möchte man seinen Lebensunterhalt verdienen, in die deutsche Gesellschaft integriert sein usw., dann mag es ok sein, wenn man sich dem heute im Westen allgemein üblichen Werdegang und Verhalten anschließt. Aber eben nur kurz- und mittelfristig. Langfristig zerstört man damit genau jenes Wohlsein, das man damit erreichen möchte, weil man Raubbau am kulturellen, sozialen, spirituellen und materiellen Kapital betreibt, also letztlich das Leben selbst zerstört (siehe “The Ascent of Humanity” von Charles Eisenstein). Für die Biosphäre und mehr als die Hälfte der Menschheit ist das schon lange blutige Realität. Der Westen muss diese Erfahrung erst noch machen. Bisher konnte er die Folgen seiner Denk- und Handlungsweise in andere Teile der Welt exportieren, aber das funktioniert nicht länger. Auch im Westen bekommt man zunehmend zu spüren, dass die Dinge außer Kontrolle geraten. Genau darum gibt es eine grüne Bewegung, und die Leute fragen sich langsam: Was tun?

Was aber, wenn es weniger um’s Tun als um’s Lassen ginge? Was, wenn wir feststellen, dass die Dinge, die uns plagen und die wir am liebsten aus der Welt haben möchten, schlicht ein Ergebnis unserer Geisteshaltung sind?

Ich bin mir bewusst, dass manche Leser meine Ausführungen für zu theoretisch halten, weil ich selten Tips für die Praxis gebe. Doch das beruht auf einem Missverständnis. Ich bin der Überzeugung, dass die westliche Sichtweise den Fokus zu sehr auf die materielle Seite, die Dinglichkeit der Welt legt, sie als Mechanismus begreift, dessen Module austauschbar und manipulierbar sind. Dabei wird vergessen, dass das, was man nicht sieht, nicht messen oder beweisen kann – die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen – mindestens genauso wichtig ist.
Welche Bedeutung man den Dingen bzw. dem sie charakterisierenden Beziehungsgeflecht beimisst, hängt natürlich von der Situation des Betrachters ab und ist damit notwendigerweise subjektiv. Aus dem Verständnis des Betrachters heraus ergeben sich jedoch (individuell) zwingende Schlussfolgerungen, die sein Handeln beeinflussen werden. Nach dem Sich-bewusst-werden tieferer Zusammenhänge gibt es keine Zweifel mehr über die zu ziehenden Konsequenzen. Es besteht nicht nur keine Notwendigkeit für allgemeingültige Verhaltensanleitungen, es wäre sogar “falsch”, weil es die dringend notwendige individuelle Bewusstseinsbildung untergraben würde, die eine nachhaltige Zukunftsgestaltung erfordert. Niemand sollte die Verantwortung für sein Leben aus der Hand geben. Niemand sollte das Denken anderen überlassen. Niemand sollte unreflektiert Listen abarbeiten. Leuchtmittel gewechselt – check; TV abgeschafft – check; Fahrrad statt Auto – check; an Ostermärschen beteiligt – check. Da capo al morte?
Wohl kaum. Wie lange wird man wohl solchen Anleitungen folgen, bevor sie einem zum Hals heraushängen, weil sie nicht der eigenen inneren Einstellung entsprechen und man sich eigentlich nicht ständig mit dem Elend der Welt konfrontiert sehen möchte?

Für jene, die sich nach Führung sehnen, kann ich wenig tun. Meine Texte stellen eher eine Beschreibung der Welt von außerhalb der gängigen Standpunkte dar und sind eine Einladung, sich von diesen zu befreien. Sie sind ein Versuch, Zusammenhänge herzustellen, die gerne übersehen oder ignoriert werden. Und dann schreibe ich über das, was aus meiner Sicht aus ihnen folgt: Die westliche Lebensweise, Zivilisation allgemein, ist unhaltbar, denn sie zerstört im Namen des Fortschritts das Leben selbst.
Diejenigen, die von sich aus sehen, was der Western way of life anrichtet und die spüren, dass am Leben mehr dran ist als Job, Unterhaltung und Konsum, werden aus meinen Gedankengängen Nutzen ziehen können. Sie werden leichter als sonst jemand verstehen, dass – wie Jiddu Krishnamurti erläuterte – die eigentliche Krise eine Krise des Bewusstseins ist. Dass all die kleinen Miseren, chronischen Schmerzen und erschütternden Katastrophen unserer Zivilisation aus der Tatsache resultieren, dass diese Kultur die Fundamente des Daseins aus den Augen verloren hat.

Was ist die Grundlage des Lebens? Was braucht es wirklich – zum Überleben, zum Menschsein, zum Glücklichsein? Welche Lebensweisen bieten eine Chance, auch in tausenden von Jahren noch zu funktionieren – und welche auf gar keinen Fall? Ich habe diese Fragen für mich selbst bis zur letzten Konsequenz beantwortet, aber ich kann sie nicht für dich beantworten, weil es die eine, einzig richtige Lebensweise nicht gibt (Daniel Quinn hat das in “Ismael” und “The Story of B” schön begründet). Das bedeutet, dass ich nicht an großangelegte Lösungen glaube, die für alle gelten, nicht an gesellschaftlichen Konsens, Politgipfel und Gesetzesnovellen. So zynisch es klingen mag – Fukushima ist aus meiner Sicht nur eines von vielen Symptomen der Denkweise, die zur Bildung von Zivilisationen führt, mit ihren unüberschaubaren Menschenmassen, ihrer Verschwendungssucht, ihrer Zerstörungswut und ihrer ungleichen Macht- und Wohlstandsverteilung.
Die Energiefrage (oder welche auch immer) wird nicht gelöst werden, indem einige wenige Personen im Namen möglichst großer Bevölkerungen Entscheidungen treffen. Sie wird auch nicht gelöst werden, indem wir uns – immerhin ein Anfang – im Rahmen gesellschaftlicher Vorgaben ein wenig einschränken. Die jetzige Gesellschaft und ihre für Einzelpersonen unsteuerbaren (weil viel zu großen) komplexen Strukturen sind der GRUND, weshalb wir vor einem Scherbenhaufen stehen, nicht der Rahmen, in dem wir über Lösungen sprechen können. Wir reden nicht über Reformen einiger morscher Institutionen, sondern über die vollständige Neugestaltung aller zwischenmenschlichen Beziehungen, von der internationalen über die nationale, regionale, lokale und persönliche Ebene bis hin zu der Art und Weise wie wir über unser Verhältnis zur belebten und unbelebten Welt denken. Ich bin überzeugt, dass vor allem Letzteres von entscheidender Bedeutung für unseren Fortbestand als Spezies sein wird.

Der Western way of life erfordert zigfach größere Material- und Energiemengen, als jede andere Lebensweise zuvor. Da ist nicht nur die Steckdose. Es geht nicht nur um Strom. Denk an den Aufwand, mit dem das Haus, in dem du wohnst, deine Klamotten, dein Essen, dein Weg zur Arbeit (und das Gebäude dort), sowie Gegenstände des täglichen Gebrauchs organisiert bzw. hergestellt werden mussten. Alles erfordert industrielle Maßstäbe: Fabriken, Großkraftwerke, Schnellverkehrsnetz, Verwaltung.
Spürst du ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Machtlosigkeit, wenn du an die riesigen Aufgaben denkst, die zu bewältigen sind? Das Gefühl hat seine Berechtigung, solange du dich innerhalb der gegebenen Strukturen bewegst. Hier bist du tatsächlich machtlos, eine Nummer, ein Rädchen im Getriebe. Deine Optionen sind Mangels Zuständigkeit und Fähigkeit beschränkt.

Kaum jemand stellt noch etwas mit eigenen Händen her; kaum jemand weiß noch, wie man Nahrung anbaut; kaum jemand kennt sich mit Heilverfahren aus; nur noch eine Minderheit versteht die Grundlagen gesunder Beziehungen zur Natur, zu anderen Menschen und sich selbst. Wir wollen nur sicherstellen, dass genug Geld reinkommt. Wir machen nur unseren Job – oft ungern. Wir sind alle nur noch Spezialisten in unserer Berufsnische. Vom überwältigenden Rest verstehen wir so gut wie nichts, und daher lassen wir uns die Verantwortung aus den Händen nehmen – von Autoritätspersonen, die als Menschen letztlich genau so überfordert sind mit der Maschinerie wie wir. (Nebenbei gesagt werfe ich ihnen nicht ihr Versagen bei der Krisenbewältigung vor, sondern dass sie, indem sie das systematische Versagen als Erfolg verkaufen, andere Menschen vom Nachdenken abhalten – aber selbst das ist vor dem Hintergrund der Funktionsweise der westlichen Gesellschaften kaum als schuldhaftes Handeln zu betrachten.)

Wenn das in irgendeiner Weise etwas in dir anspricht, dann frag dich, ob das ok ist. Ob es immer so weiter gehen kann. Ob das nett gegenüber den Lebewesen andernorts ist, wo “unsere” Rohstoffe herkommen. Wie lange der Planet das hergibt. Ob diese bessere Welt, von der wir oft träumen, nicht doch möglich ist.
Deine erste Reaktion auf das Heraufdämmern der Antworten mag Furcht vor der Zukunft sein, aber da musst du nicht stehenbleiben. Furcht ist nur eine Warnung; ein Hinweis, dass etwas nicht in Ordnung ist; eine Aufforderung, alles in Frage zu stellen, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben. Sie hilft uns, neue Wege ins Auge zu fassen, die vorher ungangbar erschienen. Es gibt bereits Dutzende Neukonzeptionen von der Stange, die zeigen, dass wir alles andere als alternativlos dastehen.
Eine neue Gesellschaftsform allein bedeutet natürlich noch keine Verbesserung, solange unser Verstand weiterhin nach altem Muster arbeitet. Aber solche Entwürfe, seien sie theoretischer Natur oder in fremden Kulturen beheimatet, öffnen die Augen für eine wunderbare Vielfalt an Möglichkeiten und bieten damit eine Starthilfe zur Erkundung dessen, was dir wichtig ist. Bist du dir darüber klar geworden, dann triff eine Entscheidung, bei der du dein gesamtes Leben in die Waagschale wirfst. Mit uneingeschränkter Ehrlichkeit gegenüber dir selbst. Kein Widerspruch mehr zwischen Soll- und Ist-Zustand. Keine Kompromisse. Mach einfach den Anfang.

Du kannst einwenden, dass du nur ein einzelner kleiner Mensch bist, der nicht viel bewirkt. Aber dann sind wir schon zwei. Und ich kenne persönlich noch ein paar Dutzend, die genauso denken, und weiß von hunderttausenden, die ebenfalls so denken. Und ungefähr die Hälfte der Menschheit hat eh keine andere Wahl, als auf Sparflamme von den Brotkrumen zu leben, die der Weltmarkt ihnen lässt.
Wir brauchen keinen besonderen gesellschaftlichen Überbau zur Durchsetzung großer Lösungen. Wir brauchen nur uns selbst. Wir als Menschen sind der Maßstab: Wir beschränken uns auf das, was wir und unser unmittelbares Beziehungsgeflecht zu handhaben imstande sind. So gesehen bietet sich umfassendes Downsizing fast von allein an. Wie lange werden noch Atomkraftwerke stehen, wenn unsere Lebensweise gerade so viel Energie verbraucht, als man mit einem Fahrradgenerator erzeugen kann? Wenn selbst Weltkonzerne keinen Strom mehr zapfen, weil niemand mehr ihre Produkte kaufen will?

Die Frage nach Fukushima, d.h. der Verhinderung der nächsten Technikkatastrophe, sollte damit, soweit es mich betrifft, beantwortet sein. Aber was wird aus dem Aufstieg der Menschheit, dem Goldenen Zeitalter, welches uns der Fortschritt in Wissenschaft und Technik verspricht?
Gegenfrage: Wo bleibt sie denn, die schöne neue Welt, die uns seit Jahrtausenden wie eine Rübe vor des Esels Nase baumelt?
Du magst aus deinen eigenen Überlegungen heraus zu einem anderen Ergebnis kommen; aus meiner Sicht jedoch war das von Anfang an ein falsches Versprechen. Die Vorstellung, der Mensch könne sich von der Natur abgrenzen, sich über sie erheben und sie kontrollieren, hat sich als Illusion erwiesen. Wir waren, sind und bleiben ein untrennbarer Teil des Ganzen, egal wieviel mehr wir noch erforschen, egal wieviel Technik wir noch aufbieten, egal wie sehr wir uns noch bemühen. Alles Streben nach vollständigerem Wissen, besserer Kontrolle, mehr Macht und größerem Wohlstand führte letztlich nur zur Sinnentleerung des Daseins. Abgesehen von Sri Aurobindo haben die Streiter für die Zivilisation aufgehört sich zu fragen, worauf all der Fortschritt abzielt. Zukunftsfetischisten, Technokraten, Kommunisten, Wirtschaftsweise, Wissenschaftsgläubige und Zeitgeist-Bewegte bleiben uns die Antwort schuldig. Sie kennen keinen Sinn, nur blinden Zufall; keine Ziele, nur Zwecke: Unser Lebenszweck sei die Vergrößerung der menschlichen Domäne, die Zähmung der Natur, die Verbesserung der Lebensumstände. Und der Zweck heiligt die Mittel. Genauer gesagt rechtfertigt er sie. Gott haben sie ja zusammen mit allem Heiligen gründlichst ausgemerzt. Und während sie sich noch einbilden, das atomare Feuer gebändigt zu haben, erstickt die Flamme des Lebens, steigt die Zahl der Suizide unbeirrt weiter an, sterben die Wälder, leeren sich die Ozeane.

Man kann darüber natürlich verschiedener Ansicht sein. Es hat sich freilich viel verändert seit der Steinzeit; ich persönlich bin jedoch keineswegs der Ansicht, dass sich irgendetwas verbessert hat. Im Gegenteil. Doch selbst wenn – zu welchem Preis? Wieviel mehr lassen wir uns den Western way of life kosten? War Fukushima schon das letzte Gebot?

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