Alles falsch. Ich will nur leben.

Alles falsch. Ich will nur leben.

Jedesmal, wenn ich jemand sagen höre oder irgendwo lese, dass eine Angelegenheit nur gemeinsam auf internationaler oder sogar globaler Ebene gelöst werden könne, möchte ich am liebsten laut schreien. Unsere Kanzlerin ist beispielsweise so eine Kandidatin, bei der ich aktiv weghören muss, wenn sie mal wieder was von gemeinsamen Lösungen salbadert.

Was so ‘verkehrt’ daran ist?
Es stimmt zwar, dass ein einzelnes Land (und erst recht ein einzelner Mensch) den Klimawandel nicht aufhalten, die Verschmutzung der Meere nicht reduzieren und das globale Wirtschaftssystem nicht ändern kann. Es muss wirklich *viel* geschehen, wenn man starke Trends umkehren möchte. Die Behauptung gaukelt aber gleichzeitig vor, niemand könne von sich aus erste Schritte einleiten, die in der Summe aller ersten Schritte weltweit zu einem Wandel führen. Es erfordert nicht die Zustimmung Chinas, um in Deutschland den Treibhausgasausstoß herunterzufahren. Es erfordert kein Bundesgesetz, seine Energieversorgung auf erneuerbar und lokal zu umzustellen. Niemand hindert uns, aus dem Wegwerfwahn auszusteigen. Wir alle sind in der Lage, uns aus den Fängen einer Maschinerie zu lösen, die den Einzelnen, ja ganze Nationen überwältigt.

Überwältigend ist sie in der Tat. Und das soll sie auch sein, denn das entspricht den dahinter stehenden Interessen großer Industrien und globaler Konzerne. Rücksichtnahme kostet Zeit und Geld; Geld, das nachher in den Bilanzen fehlt.
Ein Plan wie jener, in Nordafrika Quadratkilometerweise Solarzellen aufzustellen oder die ganze Nordsee mit Gezeitenkraftwerken einzuzäunen, um den Energiehunger Europas zu stillen, klingt zunächst einmal engagiert und umweltfreundlich. Hilft es aber Lieschen Müller aus Hintertupfingen? Wäre ihr nicht mit etwas höheren Subventionen für ein paar Solarzellen auf dem Dach ihres Häuschens eher gedient? Und wäre es für Mahmud ben Memsa aus Algerien nicht besser, die Ökologie der Nordsahara bliebe ungestört? Sieht er überhaupt etwas vom erzeugten Strom oder dem Erlös daraus? Freut sich François aus Petitville über die neue Überlandleitung? Und was ist mit den von Umweltkatastrophen eh schon genug geplagten Lebewesen der Nordsee? Wem nutzt und wer verdient überhaupt an solch monströsen Projekten?

Genau betrachtet geht es bei der Forderung nach staatspolitischen Maßnahmen wie Gesetzen, Strafen und internationalen Abkommen um die Fortsetzung des guten alten Imperialismus mit neuen Mitteln – andere geben, wir nehmen. Sie fokussiert zudem den Blick des Einzelnen auf eine “höhere Ebene”, von der er sich Entscheidungen abnehmen lassen soll und zerstreut in großem Maßstab das Bestreben, über den persönlichen Fußabdruck, die eigene Lebensweise nachzudenken. Die Generation der mindestens 60-jährigen kennt noch Zeiten, als die Dinge nicht von weißgottwoher kamen, sondern aus dem eigenen Land, Dorf oder Garten; oft nicht einmal aus der Fabrik, sondern in Handarbeit gefertigt. Fehlte etwas oder ging kaputt, waren die eigenen Fähigkeiten, Ideen und Beziehungsgeflechte gefragt.

Nur wenige Jahrzehnte später haben die Völker der Industrienationen und die Städter weltweit verlernt, wie man sich selbst hilft. Der defekte Drucker wird bedenkenlos durch einen neuen ersetzt; zur Behebung des Motorschadens braucht man einen Spezialcomputer; und ohne Handy sind wir gleich komplett aufgeschmissen. In einer Welt kilometerlanger Brücken, quadratkilometergroßer Energieparks, kubikkilometergroßer Kohlendioxidverpressungsstätten, globalen Handels, globaler Vernetzung, globaler Erwärmung, satellitengestützter Navigation usw. usf. starren wir gelähmt auf das Desaster von Kopenhagen und denken: “Oh Gott, was soll nun aus der Welt werden?”

Na was wohl? Werden uns jene, die es aufgrund ihres Reichtums bzw. ihrer Macht-über-Menschenmassen könnten, aus der Misere retten? Wollen wir darauf warten, dass die, die den Schlamassel auf organisatorischer Ebene angerichtet haben, weil sie von ihm finanziell profitieren, auf einmal davon ablassen?
Oder denken wir einmal über unsere eigene, persönliche Rolle beim Wachstumswettlauf nach, über unsere Ansprüche und Begehrlichkeiten? Wie wir uns mit Konsumschnullern pazifisieren und passivisieren haben lassen? Und wie wir die Entscheidungsgewalt effektiv wieder ins eigene Haus zurückholen können?

Die Antworten darauf sind zum Glück so einfach wie sie alt und erprobt sind. Teil der Antwort ist, dass es keine universell gültigen Lösungen gibt. Was man tun kann, richtet sich nach den örtlichen und individuellen Gegebenheiten. Hilfreich waren für mich folgende Überlegungen:
– dass langfristige Vorteile die kurzfristigen überwiegen, d.h. dass das Überleben und das langfristige Wohlergehen auch der zukünftigen Generationen wichtiger ist als kurzfristiger persönlicher Profit, denn ohne Leben kein Wohlleben;
– dass mein eigenes materielles Wachstum materiellen Mangel andernorts bedeutet. Ist materielles Wachstum an sich überhaupt ein erstrebenswertes Ziel? Gehören unangenehmere Zeiten nicht zum Leben dazu?
– dass der, der kauft, seine Verantwortung für Produktgestaltung, Herstellung, Arbeitsbedingungen und Umweltverschmutzung auf andere schiebt; er ist nur Konsument und bezahlt dies mit seiner eigenen Freiheit: Geld gibts schließlich für die Meisten nur gegen Arbeit. Konsum ist daher aus meiner Sicht gleichbedeutend mit Lohnsklaverei, Umweltzerstörung, Kulturfaschismus und staatlicher Gängelung.

Was ich erstrebe, hat mit Schuldzuweisungen genausowenig zu tun wie mit globalen Lösungen. Die Macht der Maschine mag noch so erschreckend scheinen, die Versuchung zu Resignation oder Rebellion unwiderstehlich. Doch das ihnen zugrundeliegende Gefühl der Furcht, die auch als Hintergrundangst in der Gesellschaft spürbar ist, ist ein schlechter Berater. Suchen wir lieber ihr genaues Gegenteil zu spüren, um wieder den Menschen hinter der Funktion, dem Beruf, der Rolle zu sehen. Auch – und vor allem – in uns selbst.

Als Ergebnis dieser Selbstbefragung hat sich für mich erwiesen, dass Gegenwart und Zukunft, wir und die Anderen, Ökonomie und Ökologie, Konsumverzicht und Lebensqualität keine Gegensätze sein müssen. Erst unter der gegenwärtigen Wirtschaftsweise wurden sie dazu. Anhänger der Konsumideologie mögen es noch so oft als “steinzeitlich” (und die Steinzeit als brutal) verunglimpfen – Mit dem Primat des Lebens, Konsumverzicht, sowie der Organisation aller menschlichen Aktivitäten ausschließlich nach menschlichem Maßstab eröffnet sich eine dauerhaft erstrebenswerte Zukunft auch auf kollektiver Ebene. Und die Entscheidung darüber trifft nicht irgendein fernes Gremium abgehobener Wissenschaftler, genialer Techniker oder mächtiger Potentaten, sondern jeder Einzelne. Zum Beispiel du.

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