Mehr für dich ist mehr für mich

Mehr für dich ist mehr für mich

Wer ein Wesen (d.h. eine Sache oder ein Lebewesen) liebt, dessen Beziehung zu diesem Wesen muss nicht mit Gesetzen geregelt werden. Er braucht keinen Ehrenkodex, keine moralischen Leitlinien, keine Disziplin, keinen Gehorsam, kein Durchhaltevermögen. Er wird immer das Beste im Sinn haben.

Wer wahrlich liebt, der wird nicht desertieren, aufgeben, betrügen, für sich behalten, seinen Vorteil auf Kosten des geliebten Wesens suchen. Er fordert nicht Lohn und Erkenntlichkeit, sondern nährt sich von freiwillig gegebenem Dank, Gegenliebe, Gemeinschaft und Geschenk. Wer liebt grenzt nicht ab oder aus, besitzt nicht, befiehlt nicht, zwingt nicht, sondern gibt frei und respektiert.

Weil ein Liebender weder sich noch andere belügt, werden sein Denken, Reden und Handeln von allein in Einklang und auf ein höheres Ziel als Eigennutz gerichtet sein; wobei dies von einer altruistischen Haltung zu unterscheiden ist, die das eigene Wohl verleugnet; es ist auch nicht dasselbe wie Tugend, welche die disziplinierte Einhaltung von Verhaltensregeln, gegen die Neigungen des „schwachen Fleisches“ einfordert. Obwohl sie „außerhalb“ Gutes bewirken, schädigen Tugendhaftigkeit, Altruismus und Helfersyndrom den Geber, weil sie einen Konflikt zwischen seinen Bedürfnissen und seinen Werten erzeugen, sowie eine Spaltung der Welt in „ich“ und „andere“. Daher sind sie in gewisser Weise Formen der Selbstversklavung, ähnlich wie Lohnarbeit, gewerbliche Selbständigkeit oder Unterwerfung unter militärische Disziplin und hierarchische Strukturen. Oder man kann in ihnen extreme Gegenstücke zu Egoismus sehen.

Wer die Welt als Eins betrachtet, für den gibt es keine „Anderen“, kein „Außerhalb“, denn die Einheit von Denken, Reden und Handeln lässt keine Entfremdung zu. Mehr für dich ist auch mehr für mich, für uns. Ubuntu. Ich bin weil du bist weil wir sind. Wenn man sich zwingen muss zu geben, wenn man leidet, dann ist es ein sicheres Zeichen für inneren Konflikt, innere Entfremdung und in der Tat (zumindest partieller) Lieblosigkeit.

Liebe in unserer Kultur zu lernen gehört zu den schwersten Dingen überhaupt. Da mag der Leser lange protestieren, die Fähigkeit zu lieben sei unser Erbteil und dass mein eigener Mangel an Selbst- und Menschenliebe mich nicht zu Pauschalisierungen berechtige. Ich gehe zwar tatsächlich von mir selbst aus; jedoch nicht, um mein persönliches Erleben auf andere zu übertragen, sondern weil meine Erfahrung des Nichtliebenkönnens das Gespür für dieses Phänomen geschärft hat. Ich kann es sehen. 99% der Menschen sind davon infiziert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Unsere gesamte Kultur ist darauf gegründet. Lieblosigkeit prägt unsere Sozialisation. Und obwohl uns die Fähigkeit zu lieben von Geburt an gegeben ist, hat sie keine Chance zur Selbstverwirklichung in einer Gesellschaft, in der man als Gebender ausgesaugt wird, ohne je durch Bezeugungen von Gegenliebe beim Überleben unterstützt zu werden, wie das in einer Geschenkwirtschaft der Fall ist.

Ich bin nicht gefühlskalt aufgezogen worden. Meine Mutter hat mir so viel Zuneigung gegeben, wie sie nur konnte und tut es noch heute. Bis zu meiner Volljährigkeit war ich gern zuhause. Aber die allgegenwärtige Hintergrundangst des Lebens in der Marktwirtschaft machte auch vor unserer Tür nicht halt, und so lernte ich sehr bald, „auf mich aufzupassen“, vorsichtig zu sein, nicht zu viel Vertrauen zu investieren, damit mich niemand ausnutzt und mein auch mein bleibt. Zurecht.

Denn Überleben in der Zivilisationn verlangt die vorrangige Verfolgung des Eigeninteresses, was beileibe nicht nur geschäftliche Angelegenheiten betrifft. Gerade der Bereich „Liebe“ (in Anführungsstrichen, wo das landläufige Verständnis davon gemeint ist) ist einer der am schwersten von der Zivilisation geschädigten Anteile unseres Daseins. „Liebe“ hat viele Bedeutungen für uns: Sex, Altruismus, Verliebtheit, Zuneigung, Präferenz usw. und sie taucht in haasträubenden Wortmonstren wie „Vaterlandsliebe“ und „Liebe zum Detail“ auf, aber das Eine meint man in den seltensten Fällen: Ubuntu.

Von allen Paaren, die den Bund fürs Leben eingegangen sind, und von allen Freundschaften, die ich um mich herum gesehen habe, gibt es vielleicht eine einzige, die auf echte Liebe und bedingungsloses Vertrauen baut. Alle anderen sind reziprok einseitig; sie dienen mehr oder weniger versteckt dem Eigennutz beider Partner oder gar nur einem von ihnen. Es handelt sich um emotionale und materielle Ausbeutungsverhältnisse, die zerbrechen, sobald die gewünschte Ressource versiegt oder eine Belastungsprobe ihren Preis in unerträgliche Höhe treibt.

Ubuntu gedeiht heute am besten im Geist der Gegenseitigkeit, d.h. in einer Gemeinschaft, in der die überwältigende Mehrzahl der Glieder es praktizieren, weil die Versuchung, äußerem Druck nachzugeben, noch immer sehr hoch ist. Wir, die wir zivilisierte Sozialisation erlitten haben, erreichen selten einen Grad innerer Freiheit, unter dem wir für unsere Überzeugungen mit dem Leben einzustehen bereit sind.

Ubuntu-Gemeinschaften, wie man sie in manchen Geschenkzirkeln und intentional communities vorfindet, können jedoch dabei helfen, Lieblosigkeit zu heilen, sofern Einsicht in die Notwendigkeit und Wille gegeben sind. Während es noch relativ einfach ist, sich im Selbstversuch den positiven Seiten eines Wesens zuzuwenden, seine Bedürfnisse zu respektieren, seine Rolle im Gefüge des Alls zu würdigen und es so für das was es ist lieben zu lernen, ist es wesentlich schwerer, Vertrauen in die Existenz von Gegenliebe zu erlernen. Dazu bedarf es Partner auf allen Ebenen der Beziehung, vom Geschäftlichen über das Freundschaftliche bis zum Intimen, auf die man sich verlassen kann. Wir müssen die Erfahrung machen, dass Vertrauen möglich ist, um darauf vertrauen zu können, dass Liebe ohne Netz und doppelten Boden nicht nur unbeschadet überstanden werden kann, sondern ihren Weg auf vielfache Weise zurückfindet.

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