Ich berichte seit längerem nicht mehr über Nachrichten und kommentiere idR keine politischen Ereignisse, weil es sich dabei im Grund um Kleinkram handelt, der nur unsere Energie auffrisst und so verhindert, dass wir uns mit dem eigentlichen Problem befassen. Mit offenem Auge betrachtet verbreiten die bekannten politischen, sozial- und gesellschaftskritischen Blogs mit ihren (wohlgemerkt teils gut beobachteten Sachverhalten und eloquent formulierten) Artikeln nichts anderes als Miesmacherei und verkörpern damit eine Anti-Haltung, die außer Sündenböcken keine Ergebnisse aufzuweisen hat. Denn was fast durch die Bank fehlt, das sind Lösungsvorschläge. So antwortete z.B. der Verfasser eines bekannten deutschen Politblogs vor ein, zwei Jahren auf Vorwürfe, er habe nur Gemecker aber keine Lösungen anzubieten, sinngemäß: Das gehöre auch nicht zu seinen Aufgaben. Man könne nicht von ihm erwarten, auf alles eine Antwort zu haben. Seine Aufgabe sei es, auf Missstände hinzuweisen; und so überlässt er nach geprobtem Zwergenaufstand das Feld wieder denen, die den Karren überhaupt erst in den Dreck gefahren haben: den Experten, den Politikern, den Wirtschaftsbossen. Sie sollen’s richten.
Sicher – bevor man einem Problem begegnen kann, muss man sich seiner zunächst einmal bewusst werden. In dieser Hinsicht leisten die derzeit gängigen Politblogs ganz gute Arbeit bei der Erregung öffentlichen Ärgers. Sie wecken jene auf, die sich bis jetzt von der Weiter-so-Propaganda haben einlullen lassen und verleihen ihnen eine Stimme. Dieses Erwachen reicht nur über einen trägen Halbschlaf nicht hinaus, solange erstens die Wurzel des Problems nie genannt, geschweige denn in Frage gestellt wird, und daher zweitens die ohnehin seltenen Lösungsvorschläge fast durch die Bank an der Oberfläche kratzen (mehr Kontrolle, härtere Strafen, ehrlichere Führungspersonen, Steueranreize, Verfahrensänderungen, Kompromisse usw. usf.), so dass von einer echten Mobilisierung des Volkes keine Rede sein kann. Denn dazu bedarf es einer Vision, eines attraktiven, lohnenden, erstrebenswerten Ziels, dem die Hoffnungen und Bemühungen eines Individuums zufliegen können und das realistische Aussicht hat, die Lebenssituation der Betroffenen deutlich zu verbessern.
Die Lösung politischer Probleme ist in der Politik nicht zu finden. Die Lösung finanzieller Probleme ist im Geld nicht zu finden. Die Lösung ökonomischer Probleme ist in der Wirtschaft nicht zu finden. Die Lösung administrativer Probleme ist in der Verwaltung nicht zu finden. Die Lösung ökologischer Probleme ist auf Umweltkonferenzen nicht zu finden. Denn diese Institutionen sind Teil des Problems. Sie verursachen eben jene Katastrophen und Missstände, die sie vorgeben verhindern oder lindern zu wollen. Sie kleben Pflaster über Wunden, die eigentlich Amputationen erfordern. Sie stecken Reviere ab und scheiden Recht von Unrecht, wo alle Zäune niedergerissen werden sollten. Sie verkomplizieren, was einst einfach war. Machen das Offensichtliche lächerlich, um das Absurde aufs Podest zu heben. Treffen in unserem Namen Entscheidungen, wo wir selbst hätten Verantwortung übernehmen müssen.
Deshalb nehme ich mit wenigen Ausnahmen, die exemplarisch die zerrüttete Geisteshaltung des zivilisierten Menschen und seiner Gesellschaft vor Augen führen, Abstand vom dankbaren Feld politischer Kommentare, wo es sich so leicht wie nirgends sonst Themen finden, zahlreiche Freunde gewinnen und namhafte Feinde machen lässt. Hat man den Dreh erst einmal heraus, ist es einfach, Kritik zu üben. Mit geschliffener Rhetorik ist auch schnell ein Publikum erobert. Mut erfordert es jedenfalls nicht, im… *hüstel*… freien Westen die Klappe gegen „die da oben“ aufzureißen, nur um kurz darauf im Supermarkt oder in der Stammkneipe am Eck mit seinen schwer verdienten bzw. erbettelten Scheinchen eben jene Missstände finanziell zu unterstützen, gegen die man eben noch angeschrieben hat.
Und vermutlich sieht er, der redegewandte Kritiker, keinen Widerspruch darin. Denn was können wir schon tun? Uns sind die Hände gebunden, nicht? Darum empfiehlt er ja das Kreuz an der richtigen Stelle, den Gang durch die Instanzen, die Abstimmung mit der Geldbörse, die Unterzeichnung einer Petition. Immer schön die ausgetrampelten Pfade des Systems nutzen. Die Meinung sagen und andere machen lassen: den Staat, das Volk, den Betrieb, die Gewerkschaft, das Bündnis, das Militär. Hier entlarvt sich die verdrängte Knechtschaft des Einzelnen unter Sachzwänge, die an den Fortschritts-, Autoritäts- und Institutionsglauben verlorene persönliche Entscheidungsfreiheit, die uns mit ausgestrecktem Finger gen Süden und Osten zeigen lässt, wo offene Zensur und brutale Gewalt den Willen der Mächtigen durchsetzen.
Doch niemand ist so hoffnungslos versklavt wie jene, die irrtümlich glauben frei zu sein. Wir wähnen uns so frei, wir wissen gar nicht mehr wohin damit. Wir errichten der Freiheit Statuen, benennen Plätze nach der Republik, widmen Gebäude dem Volk, wählen die Wende, bringen anderen Völkern die Demokratie, fressen freedom fries. Die zynischste aller Diktaturen liegt nicht im Süden oder Osten, weder in Nordkorea noch im Iran oder in Kuba. Perfide zerstört die Gesellschaft des freien Westens den Glauben an die Treffsicherheit persönlicher Urteilskraft, die Potenz persönlicher Entscheidungen und die Fähigkeit zur Selbstregierung und -erhaltung. Sie ist dabei so erfolgreich, dass es in der Regel bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter zum tatsächlichen Verlust dieser Fähigkeiten kommt. Aus persönlichem Aktionstrieb wird kanalisierter Aktivismus, so dass wir erst gar nicht mehr nach Lösungen außerhalb des Systems suchen. Daher verwechseln wir effektive, innere Freiheit mit (dem Streben nach) vorgegebenen, streng begrenzten, materiellen Optionen, deren Erreichung ausschließlich über Geld und die damit verbundene Unterwerfung unter Lohnsklaverei möglich ist. Gefangene des Mammon – welch ein Schicksal!
Wir lehnen uns betäubt zuruck und beobachten, wie die Welt langsam auf einen Abgrund zuschlittert, als wäre es ein Fernsehereignis. Auf gleiche Weise sehen wir unsere Lebensjahre vorbeimarschieren, gleichgültig gegenüber der Kostbarkeit eines jeden vorüberziehenden Moments. Nur manchmal ertönt eine Alarmglocke; wir geraten für einen Moment in Panik mit dem Gedanken: „Dies ist jetzt wirklich! Das ist mein Leben! Weswegen bin ich hier?“ Und dann verführt uns unsere Umgebung wieder zurückzukehren in die Stumpfheit. (Charles Eisenstein: The Ascent of Humanity, dt., S.250)
So beschäftigen mich also ausschließlich die großen Fragen, die sich um Freiheit, Leben, Geist, Verantwortung, Bindung drehen; die trotz unglaublicher Verästelungen so erstaunlich einfache Antworten besitzen; und die mit geringen Mitteln so viel Freude im Alltag bereiten. Lehrer östlicher Weisheit nennen es Erwachen, weil es sich um die Erkenntnis handelt, dass (u.a.) Regeln und Zwänge Illusionen mit kaum mehr Substanz als ein Traum sind und unsere Verstricktheit darin nur unserer Vorstellungskraft entspringt.
Das Erwachen aus dem Schlaf der Zivilisierten hat unendlich viele Facetten. Eine davon findet sich in einem Zitat von Nathalie Loisau, Sprecherin der französischen Botschaft in Washington, die auf die Frage nach der offiziellen Haltung zur Umbenennung von french fries in freedom fries meinte: „We are at a very serious moment dealing with very serious issues and we are not focusing on the name you give to potatoes.“