Keine Rede seit ’45

Keine Rede seit ’45

Es wird oft gesagt, früher (ihr wisst schon wann) wäre nicht alles schlecht gewesen.
Dem möchte ich widersprechen: Das war es. Und es ist noch dicker gekommen. Alles, wirklich alles ist von Übel. Wir nehmen schlampig wahr, sieben egozentrisch aus, denken in dualistischen Kategorien darüber nach, lügen und verheimlichen uns unseren Weg durchs Leben, handeln rücksichtslos im Sinne des Eigeninteresses und nennen das auch noch „normal“. Ein wahlloser Blick in irgendeine Zeitung müsste als Beweis genügen, dass nach ’45 kein neues Zeitalter begann. Wer sich selbst gegenüber ehrlich ist, dem dürfte etwas Innenschau genügen, den Lügencharakter der euphemistischen Worte und Denkmuster der Jetztzeit aufzudecken.

An den Punkt zu kommen, an dem man den nach innen gerichteten Blick wagt, ist aus meiner Sicht eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit, und nie waren die Hürden höher. Sie türmen sich in Form von Externalitäten vor uns auf, aus denen wir unsere Persönlichkeit zurechtzimmern: Klamotten, Besitztümer, Überzeugungen, Unterhaltung, Tattoos, Jobs, Skills, Erinnerungen, Hoffnungen, Ängste. Der Blick nach innen bleibt am Äußerlichen hängen, am Spiegelbild, an Prägung. Ich habe Leuten gegenüber mehrfach erwähnt, dass mich das krampfhafte Festhalten am Materiellen an Märchen erinnert, in denen selbst edle Charaktere vor der Begegnung mit der eigenen Seele erschauern und daran irre werden, und dass ich glaube, dass diese Vorstellung noch immer unterschwellig aktiv ist. Man hat darüber gelacht. Und doch liegt nichts offener zutage als unser Versuch, unsere wahre Natur mit Äußerlichkeiten, mit Kultur zu verhüllen. Lieber drehen wir zum zehntausendsten Mal an Stellschrauben, ändern Anbaumethoden, Konstruktionstechniken, Regierungssysteme, Gesetzeswortlaute oder Strafmaße, als dass wir auch nur ein einziges Mal in Betracht ziehen, an uns selbst zu arbeiten. Wir wechseln unsere Götter wie die Unterhosen (zur Zeit darf die göttliche Ratio ihr Glück versuchen), ebenso unsere Führungspersonen – und tatsächlich: Haben wir nicht in jüngster Zeit viel erreicht? Freiheit und Demokratie für alle?

Ich muss, glaube ich, nicht mehr darauf hinweisen, wie wenig Substanz hinter diesen leeren Phrasen steckt, und ich brauche, glaube ich, auch nicht mehr betonen, dass sich die Übel, welche uns seit Beginn der neolithischen Revolution plagen, ins Unermessliche gesteigert haben: millionenfacher Kriegstod, milliardenfacher Hunger und alles was damit zusammenhängt – im Namen des Selbsterhalts des materialistischen Ego, das behauptet, lediglich seiner menschlichen Natur zu folgen, um damit zu verhindern, dass man sich näher mit ihm beschäftigt.
Das Ego aber ist seinem ganzen Inhalt nach Kultur, nicht Natur. Wenn wir verzweifeln – das ist das Ego, dessen Phantasien von Perfektion, Dauerhaftigkeit und Allmacht dabei sind zusammenzubrechen. Wenn wir nicht mehr ein noch aus wissen – das ist das Ego, das mit seinem Leitspruch „mehr vom selben“ in eine Sackgasse gefahren ist. Wenn wir uns haltlos und verlassen fühlen – das ist das Ego, das Gegensätze erschafft, wo Einheit ist.

O ja, das Ego besitzt eine natürliche Quelle und damit einen evolutionären Bestimmungszweck. Als virtuelles Organ hat es zweifellos eine Berechtigung, nicht jedoch als auf Ballongröße aufgeblasenes Karzinom. Und so kommen wir zur Unterscheidung von Natur und Kultur. Linguistisch handelt es sich dabei um Abstrakta, d.h. „Gegenstände“ ohne materielle Gegenstücke: Begriffe, die nur im Geist eines sich von „der Natur“ (=allem) getrennt fühlenden Menschen existieren. Wir wissen z.B. von manchen „natürlich“ lebenden „Kulturen“, dass sie eine solche Spaltung nicht kennen. Und wir selbst sind unfähig, die Trennlinie scharf zu zeichnen. Ob menschliche Produkte natürlich sind, weil auch der Mensch ein Produkt der Natur ist, oder ob etwa Technik „künstlicher Natur“ ist, weil sie ohne den Menschen „in der Natur nicht vorkommt“, ist seit Jahrhunderten ein Streitthema. Es ist eng mit der sogenannten Sonderstellung des Menschen in der Natur verbunden, übrigens ebenfalls eine abstrakte Vorstellung, die sich durch nichts beweisen lässt.

Kultur als unnatürlichen Gegenstand gibt es nur dort, wo sie entsteht: in unseren Köpfen. Wir möchten etwas schaffen, das von Dauer ist, das eine Spur von uns hinterlässt, das unserem Willen zu Wirkung verhilft. Das ist das Vermessene daran. Denn es ist der Natur (=dem All) entgegengerichtet. Hier gibt es nichts von Dauer; hier bleibt keine Spur, denn alles kehrt in Kreisläufe zurück; hier, im Angesicht des Alls, endet unsere persönliche Macht. Natur ist das, was fließt, sich wandelt und aus sich selbst heraus funktioniert. Sie macht allen kulturellen, künstlichen Ansprüchen einen Strich durch die Rechnung. Hier liegt die Wurzel der Unterscheidung in Gut und Böse, Richtig und Falsch: Was fügt sich in den natürlichen Gang der Dinge und was versucht – vergeblich – dem entgegenzuwirken. Muss man zwischen Natur und Kultur unterscheiden, so wird letztere hinfällig. Ironischerweise wird ohne Kultur die Unterscheidung gleichfalls hinfällig.

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