Gewaltfreie, auf Vertrauen und Zusammenarbeit basierende Verhaltensweisen sind – aus meiner Sicht – vernünftigerweise wie intuitiv richtig und auch notwendig für eine Zukunft jenseits unserer gegenwärtigen Lebensweise. Ihr Problem ist, dass sie in einem System, das auf Kampf und Wettbewerb basiert, nicht nur nicht funktionieren, sondern sogar ihre Vertreter zerstören. Das dürfte der tiefere Grund sein, weshalb es so gut wie nie gelingt, ein System von innen heraus zu reformieren. Was hierzulande als Reform postuliert wird, ist ein Witz, denn es handelt sich um Verbesserung für Minderheiten zulasten von Mehrheiten, also im Grunde die Vertiefung eines bereits bestehenden Problems.
Zu ihrem eigenen Schutz, und damit neue Ideen eine Chance haben sich zu beweisen, ist es nötig, dass sich Menschen, die im Geiste pazifistischer Werte denken und handeln, zusammenschließen, um eine eigene Wohlstandssphäre zu schaffen, die der Außenwelt nicht feindselig, aber doch mit Reserviertheit gegenübersteht. Es ist, zumindest heute, nicht ratsam, Wildfremden Vertrauen entgegenzubringen, wenn schon die Familie keinen sicheren Hafen mehr bietet. Auch in der Familie hat die Ideologie vom Überleben des Stärkeren großen Schaden angerichtet. Isolation, Depression, Schizophrenie und viele andere Störungen von Verhalten und Psyche, vor allem aber Paranoia, sind völlig gesunde (wenn auch nicht erstrebenswerte) Reaktionen auf eine fundamental kranke, feindselige Gesellschaft.
Wo sich jedoch Loyalität sowie eine grundsätzliche Friedfertigkeit zwischen zwei Menschen entwickelt hat, entsteht ein möglicher Kondensationskern für eine neue Gemeinschaft mit vom Mainstream abweichenden Werten. Diese Gemeinschaft kann und soll wachsen; nicht jedoch im Sinne marktwirtschaftlicher, uneingeschränkter Krebswucherung, sondern langsam, vorsichtig, basierend auf realen Beziehungen zwischen Lebewesen. Das Ziel einer solchen Gemeinschaft ist nicht triumphaler Erfolg über ihre Widersacher, nicht Dominanz über weniger erfolgreiche Gemeinschaften, nicht die Übernahme der Welt, sondern die selbstgenügsame Stabilität einer Gesellschaft von überschaubaren Dimensionen.
Und für diese Dimensionen gibt es effektiv Grenzen. Neueren Untersuchungen zufolge kann ein einzelner Mensch Beziehungen zu maximal 150 Personen aufrecht erhalten. Das ist auch die oberste Grenze, bei der wachsende Stämme anfangen neue Siedlungen zu gründen. Meist geschieht das schon früher, ab ca. 60 Personen. Erst jenseits jener Größenordnung sprechen wir von Dörfern, den kleinsten zivilisatorischen Siedlungseinheiten. Viele Kommunen bewegen sich in diesem Rahmen; nur wenige überschreiten ihn, und wenn, so sind 250-300 Mitglieder das absolute Limit. Auroville mit seinen 2200 Einwohnern ist ein Gigant unter ihnen, mit Wachstumsraten von 5% in den letzten Jahren und Mutters Masterplan im Hintergrund – eines Tages sollen 50.000 Personen dort leben – aber auch eindeutig ein zivilisatorisches Projekt. Das heißt, ein Ort mit potentiell allen zivilisatorischen Problemen: Gewalt, Habgier, Angst, soziale Schichtung, Verschmutzung usw. Um die Bewältigung eben jener geht es in Auroville, und diese Stadt wird entweder beweisen, dass Zivilisation mit dem Überleben vereinbar ist – oder sie wird das Gegenteil zeigen.
Wer mein Blog über die letzten Monate verfolgt hat, kennt meine in neuerer Zeit gewachsene Einstellung zur Zivilisation und dass ich dieser wenig Chancen einräume, die nächsten zwanzig, dreißig Jahre zu überstehen. Ich mache mir aber auch nicht vor, die städtischen Bevölkerungen, welche absolut keinen Bezug mehr zu den Grundlagen des Lebens haben und die im Falle eines Zusammenbruchs zu Milliarden verenden werden, hätten heute das geringste Interesse an einer Rückkehr zu den erprobten Lebensweisen, die uns unzweifelhaft über die Jahrmillionen gut gedient haben. Primitivismus ist auch leider nicht geeignet, mehr als zwei Milliarden hungriger Mäuler zu stopfen. Die Menschheit benötigt aus sozialen und ökologischen Gründen Zeit zu schrumpfen, einen Zwischenschritt, der vielleicht aussieht wie Auroville – oder irgendwie anders; nur dass für „irgendwie anders“ kaum noch Zeit bleibt. Mutters Schuss sitzt im Schwarzen oder andere Kräfte werden schon bald Zahlen diktieren, die der tatsächlichen Tragkapazität der Erde eher entsprechen.
Darum, und weil ich dort erfahren durfte, wie eine auf Partizipation, Kooperation, Vertrauen, Austausch, Offenheit und Nachhaltigkeit basierte Gesellschaft in mir und um mich herum die Dinge deutlich verbessert – immerhin ist es dort gelungen, in gewissem Maß ökologische Restauration zu erreichen – hat Auroville für mich nach wie vor seine Berechtigung und möchte ich es nicht gegen eine kleinere Gemeinschaft wie Tamera oder Twin Oaks eintauschen; obwohl ich das als zukünftigen Schritt keinesfalls ausschließen will. Für mich gilt allemal, was auch auf die Zivilisation zutrifft, aus der ich stamme.
Neben der Übersetzungsarbeit an „The Ascent of Humanity“ stelle ich momentan auch ein Buch über potentielle Wege aus unserer Situation zusammen. Natürlich werden Auroville und Sri Aurobindos Vision eine Rolle spielen. Ich konnte mit Jack Reed (Community Planet Foundation) und Charles Eisenstein außerdem bereits zwei großartige Ideenschöpfer für das Projekt gewinnen und habe Genehmigungen zum Reprint von Werken weiterer Originalautoren erhalten. Mein Lesestoff der Jahre 2009/2010 enthielt mehr alternative, ja geradezu revolutionäre Gesellschaftsentwürfe, als irgendwer sich vorstellen kann, teilweise unter Einbeziehung historisch erprobter Elemente, alle nach 1945 entstanden, und der werte Herr Marx hat dazu nicht das geringste beigetragen. Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Pfff.