Immer wieder hört man von Leuten, die die ultimative Sprache schaffen wollen. Eine die eindeutige Aussagen trifft, eine die ein objektives Bild der Wirklichkeit zeichnet. Auf den ersten Blick erscheint das sogar sinnvoll und machbar. Auf den zweiten zweifelt man daran, ob das dann klänge, als ob wir JAVA, PASCAL, C++ oder sonst eine Programmiersprache benutzen würden. Und damit im Zusammenhang fiel mir dann ein, dass diese nicht nur hässlich klingen, sondern eigentlich auch weder alles im Griff haben noch völlig eindeutig sind. Fragt man einen Programmierer, so liegt das nicht am guten Willen. Das Problem besteht einfach darin, dass mit wachsender Zahl der programmierten Module und Funktionen die Beziehungen zwischen ihnen exponentiell vielzähliger und schon sehr bald unüberschaubar werden. Mit steigender Komplexität sind Rückwirkungen, d.h. unerwünschte Rekursionen, Rückkopplungen nicht mehr auszuschließen, und das sind dann u.a. die Punkte, die man als „bugs“ bezeichnet. Im Grunde ist jedes Programm eine Turing-Maschine; man kann nicht mit Gewissheit vorhersagen, welches Ergebnis eine bestimmte Eingabe zur Folge hat, bevor man es ausprobiert.
Aber zurück zur natürlichen Sprache.
Während ich so in den letzten Monaten über dieses Thema nachdachte, stieß ich auf eine ganze Reihe Argumente, die eine Universalsprache nicht nur unerwünscht erscheinen lassen, sondern auch beweisen, dass die Suche nach ihr ein sinnloses Unterfangen ist. Anlässlich der Übersetzung von Charles Eisensteins „The Ascent of Humanity“ ins Deutsche, bei der ich gerade entsprechende Stellen bearbeite, wollte ich nun doch mal ein paar Zeilen dazu loswerden.
Eine 100%ig objektive, eindeutige Sprache kann es aus zwei Gründen nicht geben:
1) Objektivität ist nicht erreichbar, weil diese die (nicht nur) physikalisch unmögliche Trennung von Beobachter und Beobachtetem verlangt. Vorbedingung für diese Trennung wäre eine klare Begrenzung sowohl des Subjekts wie auch des Objekts. Doch wo hört der Mensch auf und fängt die Umwelt an? Sind die Mitochondrien in unseren Zellen Teil des Menschen? Sind die Darmbakterien, die an Zahl die miteinander verbundenen Zellen unseres Körpers übertreffen und ohne die wir keine Nahrung verdauen könnten, Teil des Menschen? Ist ein Haar Teil des Menschen, und wenn ja, auch dann noch, wenn es ausgefallen ist? Sind Nahrung, Luft und Wasser Teil des Menschen, wo sie doch die Atome für unseren Körper liefern? Oder reden wir nur vom Bewusstsein, dessen Sitz das Gehirn sein soll?
Ziehen wir die Grenze sehr eng, müssen wir eingestehen, dass sie willkürlich gewählt ist. Der so bezeichnete Gegenstand wäre in keinem Fall das lebensfähige Wesen, das sich als Beobachter bezeichnet, sondern augenblicklich dem Tod verfallen. Ziehen wir die Grenze weiter, so können wir im Grunde das gesamte Universum einbeziehen, denn wir brauchen die Regenwälder, den Erdboden, den Wasserkreislauf, die Schwerkraft, die Sonne, die Galaxis, den Urknall.
2) Sprache ist per Definition eine Abstraktion der Wirklichkeit, die aus einer individuell gewachsenen Ulme, einer individuell gewachsenen Tanne und einem individuell gewachsenen Kirschbaum schlicht das Wort „Bäume“ macht, oder noch schlimmer: „Wald“, die ultimative Auflösung unendlicher Eigenschaften der Realität in ein Wort, das eine begrenzte Anzahl von Eigenschaften symbolisiert.
Charles Eisenstein schreibt in Kapitel VI-1 bezüglich der Bemühungen Heisenbergs, Gödels, Turings und Chaitins um eine objektiv und vollständig erfassbare Realität:
„Mathematik hat das Schicksal des uralten Versuchs besiegelt, die chaotische, unvorhersagbare Wirklichkeit durch eine kontrollierbare künstliche Version zu ersetzen. Wie genau auch immer wir die Realität abbilden, wie ausgetüftelt unsere Modelle sein mögen, es wird immer etwas fehlen und diese Beschränktheit ist Teil des Abbilds selbst.“
„Mit anderen Worten spiegelt das gegenwärtige mathematische Abbild das wider, womit unsere Werkzeuge derzeit fertig werden, nicht was wirklich da draußen ist“ erklärt Gregory Chaitin in seinem Buch „Meta Math!“ und bringt damit auf den Punkt, was in der Dokumentation „Dangerous Knowledge“ ausführlich an Forschung nachvollzogen wird.
Der Wunsch (die bereits vorhandene) Sprache objektiver zu gestalten führte zur Wissenschaft der Linguistik und zur Grammatik. Doch so wie Grammatik nicht die Grundlage von Sprache ist, sondern eine nachträglich erdachte „Gesetzmäßigkeit“ eines lebendigen, sich wandelnden Kommunikationswerkzeugs zu beschreiben versucht, so entsprechen auch die sogenannten Naturgesetze lediglich unserer Vorstellung von einem Universum, in dem wir bisher nichts als eine Maschine sahen, das sich jetzt hingegen immer mehr als unberechenbares Lebewesen entpuppt. Tausend Ausnahmen, die eine Regel bestätigen, zeigen eigentlich deutlich genug, wieviel Wahrheit die Scheingewissheiten modernen Lebens beinhalten.
Sprache und wissenschaftlicher Erkenntnis fehlt nämlich gleichermaßen das gewisse Etwas: Jener Löwenanteil der Realität, der durch Reduktion, Abstraktion und Objektivierung weggestrichen wurde. Dass dieser Teil nicht vernachlässigbar ist, kommt zum Ausdruck, wenn unsere Formeln versagen. Nichts in der Natur ist überflüssig: Blindärme, Junk-DNA, Unkräuter, unhörbare Schallwellen, Krankheitserreger u.ä.m. gehören einfach dazu. Darum hören sich echte Orchester besser an als eine CD; darum werfen Fukuokas unbehandelte, trockene Reisfelder mehr ab, als die chemisch behandelten Ländereien seiner Nachbarn; darum scheitert jede Vorhersage der Ergebnisse komplexer Prozesse: die der Lottozahlen, der Politik und des Wetters. Die willkürlich gezogenen Grenzen, mit denen wir das Gewebe des Lebens unterteilen, um durch deren weitere Abstraktion standardisierte, technisch manipulierbare Bausteine zu erhalten, welche imaginären Gesetzen folgen sollen, sind Phantome. Wir haben es nur vergessen. Wir haben vergessen, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist, das Wort nicht der Begriff und das Naturgesetz nicht die Natur, sondern lediglich ein Symbol, eine Abstraktion der Wirklichkeit unter willkürlicher Auswahl der „relevanten“ Eigenschaften.
Weil Worte uns eine einfache Vorstellung vom Begriff (Ding) geben und weil Wissenschaft auf bequeme Weise erklärt, wie sich scheinbar deterministische Gesetze zunutze machen lassen, die Umwelt technisch zu manipulieren, verwechseln wir Sprache und Wissenschaft mit Realität. Dass wir unsere subjektiven Wahrnehmungen und deren ebenfalls subjektive Interpretationen mit der Wirklichkeit verwechseln, drückt sich in unserer Sprechweise aus: „Einstein hat es herausgefunden; also ist es so.“ Oder wir sprechen von „Begriffen“, wenn wir eigentlich „Wörter“, „Bezeichnungen“ und „Benennungen“ meinen.
So wie Wissenschaft der technischen Manipulation der Welt dienen sollte, so muss Sprache in unserer deterministischen Sichtweise, gewollt oder nicht, der Manipulation der Kommunikationspartner dienen. Wozu sonst sprechen?
Wenn wir aber wissenschaftliche Erkenntnis lediglich als eine Form der Wahrnehmung und Interpretation von Realität anerkennen, und wenn wir die von Sprache geschaffene Wirklichkeit lediglich als eine Wirklichkeit begreifen und uns daran erinnern, dass dies lediglich Symbole für eine unendlich reichhaltigere Natur sind, dann ist das alles nicht so tragisch. Die Dinge rücken wieder ins rechte Licht, an ihren angestammten Platz, wo sie uns zwanglos Einsichten verschaffen, die dem Überleben und der Freude am Sein dienen, der Anpassung an die Welt wie sie entsprechend unserer Wahrnehmung erscheint – und nicht ihrer Manipulation, damit sie sich unserer Wahrnehmung besser anpasse.
Was das betrifft, so haben sich die Sprachen der menschlichen Völker zusammen mit diesen über die Jahrtausende entwickelt. Sie spiegeln die kollektive Erfahrung mit der Landschaft und der Lebensweise des jeweiligen Volkes und sind dazu „gedacht“ – haben sich so entwickelt – Bedürfnissen, deren Deckung die Beihilfe anderer Menschen erfordert, kommunikativ zu begegnen. Dafür steht das berühmte Beispiel, dass es in Inuktitut viele Wörter für Schnee gibt, aber keines für Palme, Kühlschrank oder Staat. Letztere befinden sich außerhalb des traditionellen Erfahrungsbereichs der Inuit. Viel eindrücklicher finde ich dagegen, dass in Stammessprachen Südamerikas, Afrikas und Australiens oft keine Personalpronomina, Zeit- und/oder Zahlwörter existieren, weil in diesen Völkern die entsprechenden Konzepte keine Wirklichkeit besitzen. Oft fühlen sich die „Primitiven“ nicht als getrennte Wesen, sondern definieren sich über ihre Beziehung zur Umwelt; ihr Leben betrachten sie als Zyklus von Werden und Vergehen, nicht als linearen Ablauf, sie haben keine Terminpläne und nahe des Äquators besitzen die Jahreszeiten wenig Bedeutung – Zeit spielt einfach keine Rolle; und in einer Umgebung, die ihre Bevölkerung mit ausreichend Nahrung versorgt, gibt es keinen Grund, etwas in Besitz zu nehmen, zu horten, zu zählen, zu vergleichen, zumal auch Individualität und die mit ihr einhergehenden Abstraktionen in einer solchen Umgebung keinen Sinn ergeben.
Wo sich Menschen keinen Begriff von einer Sache machen, gibt es kein Wort dafür, wohingegen sie eine Überfülle von Ausdrücken finden, wenn etwas eine große Rolle in ihrer Gesellschaft spielt. Im wahrsten Sinne bezeichnend ist nämlich, dass es bei uns für abstrakte Begriffe wie „Recht“, „Staatsoberhaupt“, „Geld“ oder „Wort“ reichhaltig Synonyme und Quasi-Synonyme gibt, für gegenständliche Begriffe (mal abgesehen von Tabuthemen wie Ausscheidung und Sexualität, die zur Euphemisierung einer Unzahl von Ausdrücken bedürfen) dagegen meist nur ein einziges Wort geprägt wurde – oder gar keines, wenn der Gegenstand außerhalb des Erfahrungsbereichs eines Volkes liegt.
Die Sprachen der industrialisierten Völker sind unter anderem deshalb so kompliziert, weil die Syntax den ganzen Ballast an Abstraktionen und zu treffenden Unterscheidungen berücksichtigen muss: Handelt es sich um Mann, Frau oder Ding, um mein oder dein, um eines oder mehrere, um Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges, um Realität oder Fiktion, um Über-, Gleich- oder Untergeordnetes usw.
So prägen spezifische Erfahrungen, so prägt individueller Gebrauch, so prägen örtlich bedingte Bedürfnisse die jeweilige Sprache, und die Sprache wiederum prägt das, was ausdrückbar und damit in gewissem Sinn vorstellbar ist. Sprache und Wirklichkeit formen sich gegenseitig. Warum sagen wir, die Sonne geht morgens auf? – Weil es von unserem Standpunkt aus der Wahrheit entspricht und unseren Bedürfnissen genügt. Wollen wir Raumfahrt betreiben, brauchen wir eine andere Sprache, die eine andere Realität spiegelt: die Physik.
Es ergibt also durchaus Sinn, Sprache neuen Erkenntnissen anzupassen. Eine universal gültige Weltsprache ist dagegen Nonsens, weil die Erfahrungen, die Realitäten jedes Volkes, ja sogar jedes einzelnen Menschen, verschieden sind. Es ergibt keinen Sinn, seine Ausdrucksmittel völlig umzukrempeln oder neu zu konstruieren, denn die jeweilige Sprache hat sich ja historisch genau so entwickelt, dass sie den lokalen Kommunikationsbedarf deckt, indem sie das Realitätsverständnis der jeweiligen Benutzer repräsentiert.
Ändert sich der Bedarf d.h. die Wirklichkeit des Sprechers, dann ist es leichter, bereits bestehende Begriffssysteme zu übernehmen und auszubauen. Menschen tun dies ganz intuitiv. So hat sich zunächst bestimmt niemand große Gedanken gemacht, als italienische, und in neuerer Zeit englische Wörter zur Beschreibung musikalischer Phänomene verwendet wurden, dass französische Ausdrücke das politische und militärische Gebiet dominieren, Altgriechisch philosophische, mathematische und physikalische Begriffe benennt, Latein in Biologie, Medizin und Theologie vorherrscht, Esoteriker sich des Hebräischen bedienen und Spiritualität auf altindische Termini zurückgreift.
Finden wir uns also damit ab, dass sich „die“ Wirklichkeit weder theologisch noch mathematisch-naturwissenschaftlich oder gar sprachlich in den Griff bekommen lässt. Ob es sie objektiv und abgetrennt von uns gibt, ist nicht nur fraglich, sie ist mit den begrenzten Mitteln eines begrenzten Verstandes auch nicht vollständig zu begreifen. Wie alle Lebewesen müssen wir uns den Gegebenheiten beugen, uns an unsere Nische anpassen, und mit uns unsere Sprachen.