Derrick Jensen lässt kein Auge trocken, wenn er austeilt. Hoffnungs- wie Bedenkenträger, Heteros und Homos, Politiker und kleine Leute, Kriegstreiber und Pazifisten bekommen gleichermaßen ihr Fett weg. Der Grund ist: Jensen gehört zu jenen Leuten, die der Zivilisation keine Chance mehr geben. Er ist ein Anti-Civ. Mit Kapitalismus und Demokratie hält er sich gar nicht erst auf. Zivilisation als solche sei von vorn herein dazu verurteilt gewesen, den Planeten zu zerstören und er kann dies auch charmant, d.h. eigentlich eher schnodderig, begründen. Seine Logik besticht und seine Schlussfolgerung, wir sollten die Zivilisation frühzeitig zerschlagen, weil die Folgen ihrer Existenz mit der Zeit nur gravierender würden, bringt das Blut in Wallung.
Der Autor von Endgame, dessen Fortsetzung bezeichnenderweise Resistance (dt.: Das Öko-Manifest: Wie nur 50 Menschen das System zu Fall bringen und unsere Welt retten können) heißt, glaubt daher, dass es unsere moralische Pflicht sei, den Laden zu kippen und dabei notfalls auch selektiv Gewalt anzuwenden.
Mit den meisten seiner Äußerungen gehe ich konform, muss aber den praktischen Aspekten seiner Schlussfolgerung entgegentreten, denn diese sind in sich widersprüchlich. Er verurteilt die versteckte Gewalt, welche in unsere Sprache eingebaut ist und auch bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen (Wohnung, Kleidung, Essen nur gegen Bezahlung, sonst erscheint der Sheriff) zum Tragen kommt, hat aber keine Einwände gegen die Umkehrung der Gewaltpyramide zum Zwecke der Befreiung.
Ich denke, das ist entweder nicht weit genug gedacht oder heuchlerisch oder hilflos. Oder beides 😉 Er hat wohl recht, wenn er sagt, dass Gewalt eine Kraft ist, die Dinge in Bewegung setzt; aber wie soll eine Denkweise, die Gewalt in ihren Prämissen ein-(sie zumindest nicht aus-)schließt, je eine friedliche Kultur hervorbringen? Wie soll sie den alten Teufelskreis von „wir gegen die“ beenden? Sie kann es nicht, wie schon tausende andere bewaffnete Aufstände zuvor. Und wie diese wäre die Anti-Civ-Revolution eine dem Planeten übergebratene Maßnahme, einseitig beschlossen aufgrund der Annahme weniger Menschen, sich mit ihrer Ansicht – und sei sie noch so logisch – im Recht zu befinden. Top-down.
Wieder muss ich Daniel Quinn zitieren: Es gibt keine einzig richtige Art zu leben.
Und wenn ich der Weltbevölkerung, d.h. jedem einzelnen Menschen, die individuelle Entscheidung abnehme, wie er seine Zukunft gestalten soll, dann ist das eine globale Anwendung von Gewalt, die nur verhindert, dass wir endlich die Verantwortung für unsere Taten übernehmen, also im Zweifelsfall als Spezies untergehen.
Wenn die Menschheit das Überleben verdient, dann aufgrund der freiwilligen Übereinkunft von genügend ihrer Mitglieder, einen zukunftsfähigen Weg einzuschlagen.
Derrick Jensen hat mit seiner Analyse recht, so recht. Mit jedem zivilisierten Atemzug tauchen wir unsere Hände tiefer ins Blut. Aber wir sind nicht die, die das System bloß stützen. Wir sind das System, es ist aus uns gemacht. Wie kann man sich davon distanzieren?
Lest Jensen, schaut ihn euch an, und behaltet im Hinterkopf, dass Gewaltbereitschaft aus einer fehlerhaften Annahme resultiert. Erst Trennung schafft Konflikt. Wenn man annimmt, dass „das System“ und „die Menschheit“ zwei getrennte Dinge sind, dann kann am Ende nur Gewalt stehen.
Daher bleiben aus meiner Sicht ziviler Ungehorsam, Pazifismus und Spiritualität nach wie vor als einzig… ja, was? legitime? moralische? zielführende? Mittel zur Genesung des Planeten. Jensens Konzept von ihrer Funktionsweise ist inkorrekt. Sie verweigern nicht den Gebrauch von Macht, sondern nehmen sie willentlich, anarchisch, in die eigene Hand zurück, nachdem wir sie bisher Fremden überlassen haben – und entziehen sie der Gewalt. Ziviler Ungehorsam, Pazifismus und Spiritualität sind die Selbstbefreiung des Einzelnen aus der Mentalität des konsumierenden Untertanen, auf dass er die Verantwortung für das eigene Leben übernehme, anstatt für die Handlungen Anderer Sorge zu tragen.
Das schließt in letzter Konsequenz – hier bin ich mir mit dem guten Derrick wieder eins – den Einsatz des eigenen Lebens ein. Wer sich lieber vor fremder Leute Karren spannen lässt (oder Andere mit Gewalt zur Einsicht, also vor seinen eigenen Wagen, zwingen will; welch schönes Spiegelbild), der darf das gern tun. Ich möchte dann aber kein Gejammer hören. Ihr habt gewollt, was immer aus eurem Tun erwächst.
[Anmerkung 2022: Ich sehe die Dinge heute anders und kann Jensen daher besser verstehen. In seinen Büchern weist er darauf hin , dass die Anwendung von physischer Kraft zur Abwehr eines Angriffs Notwehr ist und niemals als Gewalt bezeichnet oder gar aufgefasst werden sollte. Ich halte Jensen für mit den besten Analysten von Zivilisation und Gegenwartskultur.]