Eisensteins Buch kann ich uneingeschränkt empfehlen. Es ist ein Augenöffner. Definitiv. Nicht dass mir das Meiste unbekannt gewesen wäre. Im Gegenteil. The Ascent of Humanity bestätigt vieles, was mir schon seit langem schwant, knüpft aber neue Verbindungen und denkt Linien bis zu einem Ende, das man lieber nicht sehen möchte. Andererseits: Was hilft’s? Probleme verschwinden nicht einfach, wenn man wegsieht.
Eisenstein schreibt flüssig und leicht verständlich. Wenn ich Ascent lese, komme ich schnell vorwärts.
Wenn.
Gleichzeitig beschäftige ich mich aber mit einigen Nebenlinien. Norberg-Hodge, Zerzan, Roszak, J.Diamond, Capra, Illich, Fukuoka, Naess, V.Shiva. Die Verbindungen, die sich daraus ergeben, zeichnen ein alarmierendes Bild, vor dessen Hintergrund Mainstreamfilme wie Home in einem ganz neuen Licht erscheinen: Wir werden die Zivilisation nicht retten können, weil sie (wie ihre Hochform, der Kapitalismus) den Keim ihrer Zerstörung von Geburt an in sich trägt.
Wir sind eine Zivilisation.
Das wird kaum jemand bestreiten. Außer vielleicht Jacque Fresco, der wiederholt feststellte: “We’re not civilized yet!” Er klassifiziert Erscheinungen wie Hunger, Unterdrückung und Krieg als barbarisch, lässt aber anthropologische und archäologische Forschungsergebnisse seit den 70er Jahren unberücksichtigt, die darauf hindeuten, dass wir diese Dinge der Zivilisation zu verdanken haben, wie z.B. Zerzan und Eisenstein nachweisen. Ich gehe später noch darauf ein.
Zunächst eine andere Frage: Wovon reden wir überhaupt, wenn wir uns als Zivilisation bezeichnen?
Das Wort entstand im Zuge der bürgerlichen Emanzipation aus der Wortwurzel civis/civitas (lat.) = Bürger/schaft (dt.) = citizens (engl.) = citoyens (frz.), deutet also auf Bewohner einer befestigten Stelle (Burg oder Stadt) hin. Als das Wort während des späten Kolonisationsprozesses für die Unterscheidung zwischen “fortgeschrittenen” und kolonisierten Völkern verwendet wurde, ergab es in vielen Fällen weiterhin Sinn, da es sich in klaren Gegensatz zu nicht-organisierten, nicht-sesshaften Kulturen stellte, die man “barbarisch” und “primitiv” nannte. Diese Sichtweise herrscht bis heute vor. Sie unterstellt, dass Zivilisation ein Fortschritt gegenüber Primitivismus sei und rechtfertigt damit unseren missionarischen Eifer bei der Zivilisierung “rückständiger” Völker.
Was macht eine Zivilisation aus?
Wichtige Elemente aller bekannten Zivilisationen waren:
Grenzen, totalitäre Landwirtschaft, Kunst, Schrift, Zeitmessung, Geschichtsschreibung, Mathematik, Arbeitsteilung, Städtebau, Verwaltung, Jurisdiktion, Religion, Hierarchie.
Alle diese Wörter bezeichnen nicht nur zufällig abstrakte Begriffe. Zivilisation baut geradezu auf abstraktes Denken auf und ist ohne dieses undenkbar.
Doch nicht nur ihre Inhalte sind reichlich luftige Gebilde. Ihr Fundament ist ein blankes Hirngespinst: “Indem wir uns selbst als diskrete und abgetrennte Wesen sehen, versuchen wir natürlicherweise das Nicht-Selbst zu unserem besten Vorteil zu manipulieren.” schreibt Eisenstein. Er charakterisiert Zivilisation als den Versuch, nicht mehr Teil der Welt zu sein, sondern sie zu beherrschen. Was eine Zivilisation anstrebt – selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst ist – ist es, sich außerhalb, ja oberhalb der Natur zu stellen, und damit außerhalb oder über die Realität insgesamt.
Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft sind bis heute ihre Vehikel zur Beherrschung des Menschen, seiner Lebensgrundlagen und der gesamten Welt, ungeachtet der Tatsache, dass die Grenzen des Wissens, die Grenzen der Sprache, die Grenze des Machbaren und die Begrenztheit des dreidimensional wahrnehmenden Verstandes bereits seit Jahrtausenden bekannt sind (Buddha, Laotse u.a.), sowie seit 70-100 Jahren auch rechnerisch nachgewiesen werden konnten (Einstein, Heisenberg, Goedel). Nicht zu vergessen die Grenzen des Wachstums, welche von einer Unzahl von Studien belegt werden (D.Meadows, B.Senf, A.Bartlett etc etc).
Zivilisation als sich selbst verstärkender Prozess verhindert allerdings die nähere Beschäftigung mit dem Thema Endlichkeit, weil die ihr zugrundeliegende Weltsicht, die Isolation (Getrenntheit) des Einzelnen vom Rest der Schöpfung, Existenzangst erzeugt, was den präventiven Feldzug des Ich gegen das Nicht-Ich unbedingt verlangt. Anders ausgedrückt: Wir können uns aus lauter Angst der Furcht nicht stellen und darum machen wir weiter.
Eins mit dem Universum zu sein bedeutet, keine Angst haben zu müssen. Es gibt keine äußere Bedrohung, weil es kein Außen gibt.
Sich getrennt zu fühlen, mental ein Individuum zu sein, führt zu Furcht.
Es mag intelligent aussehen, Nahrung im Überfluss zu erzeugen, um sie für Notzeiten wegzusperren. Doch in der Folge führt es zu Hungerkatastrophen, wenn überbeanspruchte Flächen ihre Bevölkerung nicht mehr zu tragen vermögen. Verteilungskämpfe führen zu weiterer Furcht, damit zu Gewalttätigkeit und Machtkämpfen mit nachfolgender Ungleichheit und Unterdrückung. Um den Auswirkungen entgegenzuwirken brauchen wir Regulative (Expansion, Rechtsprechung, Geld) und handeln uns so weitere Probleme ein, die wir gleichermaßen zu patchen versuchen – mit dem selben Ergebnis: Die Angst wird größer, der Aufwand zur Erhaltung des Systems höher.
Die Ursache der Unsicherheit war der Versuch der Kontrolle eines nicht-existierenden (und damit unkontrollierbaren) getrennten Dings: der Außenwelt. Wenn man den Zusammenhang erkennt, kann man ihn leicht stoppen, indem man das Konzept des Getrenntseins loslässt. Es ist eine Abstraktion, eine Illusion, genau wie Sicherheit.
Weil wir aber gewohnt sind, in abstrakten Dualitäten zu denken, verstehen wir unser Versagen als Reaktion des Gegenstands auf unsere Aktion und erhöhen den Druck, um “den Gegner” unter Kontrolle zu bekommen. Kontrollstreben und Unsicherheit jagen einander in der Folge wie ein Hund seinen Schwanz.
Solche Effekte beobachten wir bereits beim Übergang primitiver Kulturen in frühe Stadien der Zivilisation: Ein bisschen Landwirtschaft, ein bisschen größere Dörfer, ein bisschen mehr Technik, und schon treten erste Morde auf, erste Diskriminierung, erste Bevormundung, erste Grenzen, erste Kriege, gelegentlich Hunger. Was tun wir dann? Wir erhöhen die Produktion, expandieren, üben mehr Druck aus, mehr Kontrolle. Fertig ist die perfekte Teufelsspirale.
Daniel Quinn beschreibt sehr lebendig, was im weiteren Verlauf geschieht. Alle Aktionen und Reaktionen folgen einer exponentiellen Kurve. Nicht nur die Zahl der Menschen wird immer höher, auch ihre Zusammenballung in Gruppen, Städten und Staaten. Die von Vandana Shiva als Substanz der Schöpfung bezeichnete “Leere” zwischen den Dingen, die Beziehungsgeflechte, werden exponentiell zahlreicher, die Gesellschaften komplexer; heute so weit jenseits der Erfassbarkeit, dass das Wohlergehen des Einzelnen in statistischer Masse erstickt. In gleichem Maß steigen die Schwierigkeiten: Landverbrauch, finanzielle Einbußen, Opferzahlen, Artensterben.
Keines der o.g. Probleme besteht in prä-zivilisatorischen Gemeinschaften, weil keines der abstrakten Konzepte existiert. Abstrakte Wörter sind überhaupt selten zu finden, und gelegentlich entzieht sich abstraktes Denken grundsätzlich primitiven Denkmustern, so dass in den Sprachen der Völker keine Zeitbegriffe, keine Personalpronomen und keine Zahlwörter vorkommen.
Wozu braucht man eine Zivilisation?
Mit anderen Worten: Welche Vorteile bringt sie?
Wenn wir beobachten, wo wir nach 10.000 Jahren der Natur- und Gesellschaftskontrolle stehen und dass jeder weitere Versuch der Kontrolle neben kurzfristigen Erleichterungen zu langfristigen, noch größeren Schäden führt, welches sind dann die erstrebenswerten Dinge an ihr? Gibt es etwas, das es lohnt, an ihr festzuhalten?
Ehrlich gesagt bin ich an einem Punkt angelangt, an dem mich das blanke Unwissen über praktiziertes primitives Leben (z.B. Fährtensuche und Pflanzenkunde) noch in den Armen der Zivilisation hält. Alles, was wir mit Hilfe von Wissenschaft, Technik und sozialen Konstrukten zu erreichen versuchten, führte zum genauen Gegenteil.
Weniger Arbeit, mehr Freizeit? – Wir arbeiten doppelt so lang wie vor der neolithischen Revolution. Und was erschwerend dazu kommt: Wir empfinden Arbeit heute als von der Freizeit getrennte Tätigkeit und damit als lästige Notwendigkeit.
Mehr Sicherheit? – Wir befinden uns in konstantem Hader mit der Natur, anderen Staaten, Nachbarn und unseren biologischen Bedürfnissen. Wettbewerb ist eines unserer höchsten Güter.
Mehr Komfort? – Wieviel mehr Komfort kann man wollen, außer sich wohlzufühlen? Im Endeffekt landen wir bei mehr entfremdeter und entfremdender Arbeit, die unsere Fähigkeit, das Erreichte zu genießen, stark schmälert.
Vielleicht fällt einem meiner Leser ja noch etwas ein, das für’s Weitermachen spricht.
Quo vadis?
Was ich in diesem Eintrag zu sagen hatte ist nicht neu. Archäologen und Anthropologen strafen das Märchen vom Aufstieg der Menschheit seit mindestens den 70er Jahren lügen. Wir haben weniger statt mehr Freizeit, arbeiten länger statt kürzer, sind Hektik und Stress unterworfen, führen barbarische Kriege gigantischen Ausmaßes, leben ungesünder, ungleicher, unfreier, unsicherer und unzufriedener als unsere nicht-zivilisierten Mitmenschen in Vergangenheit und Gegenwart. Es ist nicht in der freien Natur, dass wir in Konkurrenz mit anderen Völkern und Spezies um unser Überleben kämpfen müssen, sondern im Dschungel unserer Städte. Erst die westliche – unsere – Lebensweise, hat psychische Abweichungen, Kriminalität, Hungerkatastrophen, Verschmutzung und Terrorismus erzeugt; dank ungehinderter Ausbreitung sogar in weltweitem Maßstab.
Als ich eingangs sagte, wir sind eine Zivilisation, dann lag durchaus Gewicht auf dem Zahlwort. Denn heute gibt es nur noch uns. Doch wir sind nicht die einzige Zivilisation auf diesem Planeten gewesen. Mehrere Völker hatten unabhängig von uns eigene Systeme aufgebaut. Azteken, Inka und Bantu haben wir durch Krieg und Krankheit zerstört. Inder und Chinesen haben sich der mesopotamisch-ägyptisch-griechisch-römischen Linie angepasst, auf der das anglo-amerikanische Modell beruht.
Die Anasazi, die Maya und die Polynesier aber haben den Zivilisationsprozess abgebrochen. Letztere haben zu wenig hinterlassen, um auf einen Grund schließen zu können. Wir wissen allerdings von den Osterinseln, dass ihre Gesellschaft in einem biologischen Holocaust geendet hat. Ähnliches steht von den Maya zu vermuten, die es zweimal versucht haben. Die Anasazi jedoch haben ihre Städte einfach verlassen. Kein Krieg, keine blutigen Unruhen – einfach weg. Und man fragt sich: Warum?
Die Anasazi haben mit der Zivilisation logischerweise die Geschichtsschreibung verworfen. Das Volk kann uns also keine Auskunft mehr über seine Beweggründe geben. Doch auch wir sind Mensch und teilen unsere grundlegenden Bedürfnisse mit den Anasazi. Fragen wir uns doch selbst: Sind wir glücklicher? Sind zivilisierte Menschen glücklicher als primitive?
Die o.g. Autoren stellen fest, dass Primitivismus, d.h. einfaches Leben unter Verzicht auf Städtebau, Wissenschaft und neuere technologische Errungenschaften wie Elektrizität, in den jeweils untersuchten Situationen die intelligenteste Antwort auf die Herausforderungen menschlichen Überlebens waren. Völker wie z.B. Kogi und Tibeter entwickelten sich sehr langsam bis zu einem bestimmten zivilisatorischen Punkt und stoppten dann weiteren Fortschritt. Andere wie Mbuti und Aborigines lehnten Zivilisation sogar vollständig ab. Aus ihrer Sicht sind wir auf dem Holzweg. Den Beweis dafür traten wir sofort an. Als wir sie zwangen, sich uns zu unterwerfen, taten wir ihnen keinen Gefallen.
Der Lebensraum für praktizierten zivilisationsfreien Primitivismus geht heute gegen null. Wir werden es eines Tages bedauern, primitive Völker bekehrt oder ausgerottet zu haben, denn das Wissen darüber, wie man mit einfachen Mitteln überlebt, fehlt der westlich orientierten Hochzivilisation fast vollständig. Genau besehen sind sieben Milliarden Jäger-Sammler ökologisch zwar genau so wenig tragbar wie sieben Milliarden Wohlstandsbürger.
Aber eines könnten wir tun: unsere Ansprüche so weit zurückschrauben, dass wir mit dem blanken Überleben zufrieden sind, um uns dann auf einem niedrigen Level der Zivilisation einzurichten, mit kleinen Dörfern, veganer Landwirtschaft und so wenig wie möglich Bevormundung.