Vier Null

Vier Null

Als ich vor Urzeiten das allererste Mal MTV eingeschaltet hatte, da hatte ich gerade den Augenblick erwischt, als sie berichteten, Kurt Cobain habe sich erschossen. Wann war das, 1994? Ich müsste demnach 23 gewesen sein und er, glaub ich, 27 rum. Natürlich war ich traurig und überrascht, obwohl ich, wie viele, insgeheim schon eine Weile damit gerechnet hatte. Ich konnte sein mieses Bauchgefühl gut nachvollziehen, die Verdrossenheit einer schlecht funktionierenden Beziehung, die Abscheu vor dem Business, die Stupidität der Leute um einen herum, und vor allem das, wie Heinz Rudolf Kunze es einmal so treffend ausgedrückt hat, “leere laute Elend mit gutgelauntem Geld”.

Ich erinnere mich noch gut, was mein erster Gedanke war. Mein erster Gedanke war nicht: Oh mein Gott, der arme Mann! Der genaue Wortlaut sagte: Ich frage mich, wie ich überhaupt mal so alt werden soll. Ich fühlte mich geschlagen von Misserfolgen und gedemütigt vom Schicksal. Vor allem aber kotzte mich die Aussichtslosigkeit an, es in diesem kaputten Land je zu etwas bringen zu können. Ich gehörte nicht dazu und ich wusste sehr genau, dass man einen Außenseiter nicht reinlassen würde, egal was ich anstellen würde. Damit bestand auch keine Hoffnung auf Erfüllung von Träumen. Die waren damals noch relativ bescheiden, bewegten sich eher im Bereich “Frau, Haus und Hund”, vielleicht einen interessanten Job und vor allem Frieden. Die gravierendsten Einschnitte lagen dabei alle noch in der Zukunft: Trennungen, Scheidung, Tod der Großeltern, Versagen im Job, Jahre der Armut. Gerhard Schröder auch 😉

In einem halben Jahr werde ich 40. Vierzig. Ich lebe immer noch.
Die Zahl selbst bedeutet nicht das Geringste. An einem Tag bin ich noch 39, am nächsten schon 40. Was hat sich dann geändert? Ein einziger Tag ist vergangen. Auf diesen einen Tag kommt es allen an. Doch wohnt ihm ein anderer Sinn inne, als die Meisten ihn verstehen. Es ist dieser eine Tag, der genutzt werden soll. Der nicht verschwendet werden darf. Er liegt nicht in der Zukunft, und schon gar nicht in der Vergangenheit. Er ist immer heute. Immer.

Wie komme ich gerade jetzt darauf?
Ich kann es selbst nicht sagen. Teile des Gedankens begleiten mich schon seit anderthalb Jahren, als auf einmal ungeheuer dringend das Gefühl in mir aufstieg, nun endlich etwas unternehmen zu müssen gegen die Misere, in der ich selbst und mit mir die ganze Welt steckte. Ich hatte mich schon als kleines Kind gewundert, weshalb man einfach Müll aus dem Autofenster warf, hatte mich als Jugendlicher mit der Geschichte kriegerischer Konflikte beschäftigt und als Erwachsener die Innereien der Marktwirtschaft erforscht, bis der Gedanke an sie Brechreiz hervorrief. Meine Hoffnung dabei war immer, all das Falsche ändern zu können. Aber statt der staatlichen Gewalt den Rücken zu kehren bin ich Beamter geworden. Statt umweltbewusst zu handeln habe ich mich aus Plastiktüten ernährt. Und statt dem Kapital den Finger zu zeigen habe ich einen Laden aufgemacht, um chinesischen Billigmist zu verticken. Wie weit kann man sich von seinen Träumen entfernen, ohne darum zu verwelken, daran zu zerbrechen?

Gandhi hat gesagt: You must be the change you want to see in the world. Sei der Wandel, den du in der Welt zu sehen wünschst. Es ist wohl sein berühmtestes Zitat und gleichzeitig das am wenigsten befolgte. Fehlverstanden obendrein.
Wenn du findest, man müsste etwas tun, dann musst du etwas tun. Warte nicht auf ideale Bedingungen. Sichere dich nicht ab. Schiele nicht danach, ob andere es für dich tun wollen, ob sie dir vorausgehen oder doch wenigstens folgen werden. Was sein muss, muss sein, nicht wahr? Nimm’s selbst in die Hand. Hier und jetzt.

Gandhi sprach jedoch nicht von Aktivismus oder gar Aktionismus. In der Hinsicht wird das Zitat meist falsch verstanden. Es geht nicht primär ums handeln, machen, tun. Er sagt nicht “Bewirke die Änderung”, sondern “SEI der Wandel”. Der Wandel beginnt nicht erst mit dir, sondern in dir. Denke ihn, fühle ihn und dann verkörpere ihn in jeder Sekunde deines Lebens. Wenn du findest, du musst etwas tun, dann solltest du es zuerst einmal sein. Lass den Traum, der in dir schlummert, erwachen. Werde dir seiner bewusst und dann leb ihn aus. Lass dich durch nichts davon abbringen. Weder durch Geld noch Erwartungen noch Sitten, weder durch Furcht noch durch Hoffnungen. Memento mori.

Der fundamentale Fehler meines bisherigen Daseins war, gegen diese Weisheit verstoßen zu haben. Meine wichtigste Einsicht seither ist, dass es keinen Sinn ergibt, sich (deswegen) graue Haare wachsen zu lassen. Hier BIN ich nun in Auroville. Mein verqueres Leben voller Enttäuschungen, Tief- und Rückschläge, nätürlich auch angenehmer, bereichernder, schöner Erfahrungen, hat mich hierhergeführt. Auf dem stinkendsten Mist wachsen die schönsten Rosen. Doch nur dann, wenn man ihn vergehen, zerfallen, sich auflösen lässt. Andernfalls verpestet er die Luft und vergiftet das Wasser.

Wohl gibt es Widerspruch. Wer hätt’s gedacht.
Was ist mit Sicherheit? Wo kommt das Geld für meine Brötchen her? Und was ist mit meinen Verpflichtungen? Einfach SEIN, bloß leben – das können sich doch nur Leute leisten, die nichts zu tun und die auch sonst nichts zu verlieren haben. Leute, die vom Staat oder von Mama ausgehalten werden. Studenten zum Beispiel 😀

Der Einwurf, ein weltfremder Träumer zu sein, ist mir nicht neu. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit und hatte daher viel Zeit, über ihn nachzudenken. Nach langen Kämpfen habe ich aufgehört ihn zu opponieren. ich sehe darin nicht mehr einen Vorwurf, sondern nur noch einen Einwurf, dem ich stattgeben muss.
Ja, ich bin weltfremd. Ich habe es schon immer gefühlt. Als ich drei oder vier Jahre alt war, als ich noch zur Schule ging, nachdem ich volljährig geworden bin. Ich bin der Welt fremd, weil ich mich nicht ihn ihre lebensfeindliche, unvernünftige, repressive Struktur eindenken und einfügen kann. Ich bin ein Träumer, weil ich den Traum in mir über alle Konventionen, einschließlich das Bedürfnis nach Sicherheit, stelle. Und ich behaupte, jeder andere kann das ganz genauso (vorausgesetzt es ist sein tiefster Wunsch). Ist obengenannter Einwurf nicht eine Kapitluationserklärung vor den Mächten, die uns “zwingen”, unsere vitalen Interessen zu unterdrücken? Schmeißen wir unser Leben weg, nur weil wir Geld verdienen müssen? Verzichten wir auf unsere Freiheit, bloß um sicher zu sein, dass der morgige Tag genauso sinnentleert wie der vorangegangene verlaufen wird? Worin besteht denn eigentlich dieser Vorwurf-Einwurf anders als in der Verkündung der Unfähigkeit seines Sprechers, sich gegen jene Ansprüche durchzusetzen, die ihn an einem erfüllten, glücklichen Leben hindern?

Es mag wohl sein, dass es Umstände und Orte gibt, welche den Befreiungsschlag begünstigen. Nicht umsonst bin ich dem Ruf nach Auroville gefolgt. Das Entscheidende dabei ist: Die Freiheit war mir nie gegeben. Ich habe sie mir genommen.
Sobald ich losließ, vom Moment an, in dem ich mich nicht mehr an Gewohnheiten, Ideen, Wünschen, Ängsten, Sicherheiten, Plänen, Personen, Besitztümern, Gefühlen festklammerte, hörte ich auf, deren Diener zu sein. Allein daraus erwuchs die Freiheit zu SEIN (und auch zu handeln), und nicht aus dem imaginären Privileg angeblich günstiger Gelegenheit.
Ich bin arbeitslos aus freien Stücken. Ich habe Zeit, weil ich sie mir nehme. Ich habe nichts zu verlieren, weil mich nichts mehr von den Dingen, die ich “haben” könnte, interessiert. Für das, was ich anstrebe, bin ich auch nicht auf die Mithilfe meiner Familie angewiesen. Aber ich bin dankbar für ihre Unterstützung und wäre ein verbohrter Hohlkopf, würde ich sie zurückzuweisen.

Was danach kommt, welchen Weg man nach dem Erwachen nimmt, liegt in der Hand Gottes, des Schicksals, des höchsten Bewusstseins, des Universums. Nennt es wie ihr wollt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Dinge von da an allein entfalten.

Titelbild: Club 27, Graffiti in Tel Aviv (Foto: Wikimedia user Psychology Forever, cc-by-sa-4.0intl

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