Pisa und Bologna sind keine böhmischen Dörfer

Pisa und Bologna sind keine böhmischen Dörfer

Es wird viel und ausführlich über Bildung gemeckert. Die Industrieverbände jammern, dass Schulabgänger schlecht auf das Berufsleben vorbereitet werden. Universitäten beklagen, dass die Allgemeinbildung der Abiturienten auch nach dreizehn lang(weilig)en Jahren nicht breit genug sei. Eltern finden, dass Lehrer meist inkompetent seien. Lehrer schieben den Trägern den schwarzen Peter zu, denn bessere Bezahlung könne das Niveau nur heben. Die Träger wiederum mauern mit der Begründung, dass noch nicht mal genug Geld für adäquates Lehrmaterial vorhanden sei. Und da wundern sich Bedenkenträger, weshalb man an der Schule nichts über soziale Kompetenz und an der Uni nichts über Informationsbeschaffung lernt. Statt dessen Fakten, Fakten, Fakten pauken, genau das, was Generationen von Schülern, ja, wir selbst, schon immer wussten: Das meiste Zeug ist so zweckfrei, so sinnlos, dass es, wenn überhaupt, nicht die nächste Klassenarbeit überlebt.

Hätten sie mal auf uns gehört, als wir noch in der Lage waren, Freude am Lernen zu empfinden. Erinnert sich noch jemand, wie das im frühen Kindesalter war? Oder im Kindergarten? Auf der Straße mit den Kumpels, oder sogar noch in der ersten Klasse? Wir waren die reinsten Wissensstaubsauger. Was ist danach schiefgegangen?

Da sagen manche: Der Frontalunterricht zerstört den Spaß am Lernen. Wir brauchen mehr Exkursionen und Gruppenarbeit.
Doch hat das seit den 70er Jahren etwas geändert?
Andere meinen: Das dreigliedrige System ist schuld. Sitzenbleiben ist schuld. Noten sind schuld. Wir demotivieren Kinder, indem wir sie auf diese Weise unter Druck setzen, insbesondere die, die tatsächlich an solchen Hürden hängenbleiben.
Ein solches Gefälle bei Bildungsniveau und Durchfaller-Raten zwischen den klassisch-dreigliedrigen Ländern wie Baden-Württemberg und Bayern und den Gesamtschulländern wie NRW zu sehen, hieße, es an den Haaren herbeizuziehen.
Und die Furzidee mit den Eliteschulen – sprechen wir nicht drüber.

Wenn es sowohl misslingt, das kindliche Lerninteresse zu nutzen als auch funktionierende Mitglieder der Gesellschaft als “Endprodukt” des Bildungsprozesses zu erzeugen, dann ist die Zeit, die wir in Schulen jeglicher Art verbringen wohl auch nicht dazu gedacht. Andernfalls hätten wir entsprechende Änderungen vorgenommen.
Hört sich an wie eine Verschwörungstheorie, ergibt vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosenzahlen jedoch Sinn. Gebildete Häupter mögen wohl Gutes im Auge gehabt haben, als sie die allgemeine Schulpflicht einführten, doch vielen werktätigen Untertanen waren ihre Kinder bis ins 19. Jahrhundert hinein noch wertvolle Hilfe auf dem Hof oder als Arbeiter in Fabriken. Solange sie vom Beitrag zum familiären Broterwerb abgehalten wurden, waren sie dagegen nutzlose Esser, und daher kam es auch immer wieder zu Protesten gegen die Schulpflicht.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Mit voranschreitender Mechanisierung und Rationalisierung von Arbeitsvorgängen sind in den letzten 200 Jahren Millionen Jobs weggefallen. Zwar gingen nutzlos gewordene Landarbeiter in die Industrie. Und nachdem dieser zweite Sektor zunehmend Maschinen einsetzte, erschuf man Jobs in einem dritten Sektor, dem Dienstleistungsbereich. Doch auch hier verdrängt Technik fortlaufend menschliche Arbeitskraft, während ein vierter Sektor nirgends in Sicht ist. Das letzte, was das System braucht, sind mehr Hände.

So wurden aus sechs Schuljahren acht, später in der Regel neun, teilweise bis zu zwölf. Die Praxis ist genaugenommen, Minderjährige von Erwerbstätigkeit fernzuhalten, indem man sie bis zur Volljährigkeit in der Schule lässt oder sie bei früherem Abgang in eine Berufsschule steckt.
In dieser Zeit verkonsumieren sie das Geld ihrer Eltern, statt den Arbeitsmarkt zu überfordern.
Berufs- und Fach(hoch)schulen streckten darüber hinaus ihre Lehrprogramme von ursprünglich zwei über drei auf vier Jahre, ohne dass es durch Verdopplung des Fachwissen gerechtfertigt gewesen wäre. Zumindest soweit ich das mit meiner eigenen Erfahrung auf zwei Berufsfeldern beurteilen kann. Praxisanteile (die den leichtesten Zugang zum Beruf darstellen) wurden gekürzt, Theorieblöcke gestärkt.

Mein Gott, was musste ich alles pauken. Deutsch, Religion und Recht waren Pflichtfächer sowohl in Altenpflege als auch in Bibliothekswesen. Dafür gab es natürlich fadenscheinige Begründungen. Ich musste außerdem sämtliche Abteilungen meiner Praxisstellen durchlaufen, die theoretische Grundlage jedes möglichen Handgriffs erlernen, nur um später für immer hinter einem Lesesaalschalter monotone Stempelei zu betreiben oder in einem Heim so schnell wie möglich Essen in alte Leute umzufüllen. Dieser ganze Tanz um die Wichtigkeit von Bildung besitzt wenig Bezug zum Nutzen, den wir aus ihr ziehen. Welchen Beruf wir auch ergreifen, wir beginnen zunächst auf der untersten Stufe der jeweiligen Jobhierarchie, die uns unsere Ausbildung eröffnet: als Äquivalent eines Stiefelputzers. Es ist Übung, die den Meister macht, wie es auch Selbst-Tun ist, das aus Kindern lebensfähige Wesen werden lässt.

Die meisten Menschen sind nicht dumm genug, diese Tatsache zu übersehen, doch wie dringlich wird die Frage nach der Sinnhaftigkeit unseres Bildungssystems gestellt? Ist es nicht so, dass wir oft genug die Kröte einfach schlucken, damit wir uns nicht mit Zweifeln aufhalten? Wollen wir’s nicht alle ganz schnell hinter uns bringen, damit wir “frei” sind? Wenn wir groß sind, wenn wir erwachsen sind, wenn wir im Berufsleben stehen, wenn die Kinder erwachsen sind, wenn wir in Rente gehen – die Grenzen dieser imaginären Freiheit entziehen sich unserem Zugriff fortschreitend, leuchten wie eine Karotte am Horizont, der wir Esel bis zum Umfallen hinterhertraben. Währenddessen vertrödeln wir Jahr um Jahr, darunter unsere beste, unsere lernbegierigste Zeit an der “Penne”.
Ich selbst konnte mich – nach motiviertem Start – nur dank eiserner Disziplin durch Gymnasium, Fachhochschule und Fachschule boxen, immer in der Hoffnung, der Abschluss (oder wenigstens der vermiedene Abbruch) mache sich ganz gut in meinem Lebenslauf.

Das mag im Einzelfall eine Rolle spielen. Im gesamtgesellschaftlichen Rahmen zählt die Zeit, die du von der Straße weg bist. Eine Armee von 15jährigen, die auf den Arbeitsmarkt fluten, wäre der Albtraum jedes Volkswirtschaftlers. Getränke-, Fahrkarten- und EC-Automaten, Fertigungsstraßen, Internetshopping, Ansagemaschinen und ihre Verwandten verdrängen den Menschen in jedem nur denkbaren Bereich, von der Landwirtschaft bis in Behörden hinein, und die einzige Frage, die man dir stellt, lautet nicht: Bist du besser. Sie lautet: Bist du billiger als sie?
Der Ruf nach qualifizierten Kräften ist ein Witz. Trotz Miss-Bildung gibt es genug von ihnen. Wir haben vom Verlagern von Programmierjobs nach Indien gehört. Inzwischen werden noch billigere Länder gesucht. Welche der beiden Eigenschaften, Qualität oder Preis, in der Regel den Vorzug erhält, ist keine Frage. Auch an meinem Marktstand schlägt diese Tatsache täglich dutzendfach durch.

Die Inhalte unserer Lehre sind im wahrsten Sinne des Wortes leer. Sie dient nicht dem Vorankommen des Einzelnen, nicht der Vorbereitung auf’s Erwachsenenleben. Sie hält uns schlicht für viele Jahre vom Arbeitsmarkt fern. Auf den jedoch sind wir später angewiesen, denn in unserer Gesellschaft gibt es Nahrung, Kleidung, Wohnung nur für Geld. Und solange sich unsere Gesellschaft auf Geld gründet, werden wir alles tun, unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Bevorzugt werden Leute mit Zertifikaten. Papiere bekommt man natürlich nur, wenn man die vorgeschriebene Zeit auf der Lehranstalt abgesessen hat.
95% des dort vermittelten Wissens verlernen wir wieder. Zurecht. Ausnahmen mögen die Regel bestätigen, doch üblicherweise erwerben wir das essentielle Handwerkszeug für unsere Jobs in eben diesen Jobs. Indem wir praktizieren.

Kinder sind darin großartig. Kinder lernen problemlos mehrere Sprachen gleichzeitig. Sie sind im Alter von vier Jahren in der Lage, das Konzept von der Kontinentaldrift oder den Vorgang der Geburt zu verstehen. Sie können lesen lernen, ohne ihre Zeit in Klassenräumen zu vergeuden. Sie können korrekte Stromkreise bauen oder ihr Fahrrad selbständig reparieren, wenn man ihr Interesse daran weckt und sie ausprobieren lässt.
Die Kinder “wilder” Stämme können im Alter von sieben, acht Jahren auf sich gestellt in einer (nach unseren Maßstäben) feindlichen Umwelt überleben. Sie werden mit Erreichen der Pubertät als erwachsene Vollmitglieder ihrer Gemeinschaft aufgenommen, und niemand hält ihnen vor, sie seien erst 10 oder schon 16 Jahre alt.
Sind wir – um die Gegenprüfung vorzunehmen – in irgendeinem beliebigen Alter befähigt, ohne Geld in der Tasche für Kleidung, Nahrung und ein Dach über dem Kopf zu sorgen?

Es mag wohl sein, dass wir das in unserer Gesellschaft nicht müssen, aber das macht uns hochgradig vom System abhängig, und das System ist Geld für Arbeit und Ware für Geld. Wenn Menschen bedauern, dass sie “seinerzeit nicht aufs Gymi gegangen” seien, wenn sie sich stöhnend durch dröge Studiengänge quälen, wenn sie sich nicht trauen die Arbeitsstelle zu wechseln, wenn sie ratlos sind, weil sich ihr Traumjob als Hamsterrad entpuppt hat, wenn sie nach einem langen Arbeitstag lustlos, wie erschlagen zwischen Zappe und Chipstüte auf dem Sofa fläzen, dann ist all dies Ausdruck der Unfreiheit, in der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der industrialisierten, geldbasierten Gesellschaften gefangen ist.

Diese Unfreiheit bei der Gestaltung der eigenen Biografie zieht eine weitere Unfreiheit nach sich: die der gleichgültigen Unwissenheit. Sie stammt zum einen aus dem Abfüllen mit Junk-Informationen, zum anderen aus jener Müdigkeit, die Pflichterfüllung bei stupiden, repetitiven, nutzlosen, entfremdenden Arbeiten mit sich bringt.
Das System versagt nicht etwa darin, gebildete, verantwortliche und freie Menschen heranzuziehen. Es produziert nur genau die Sorte Abhängige, die es für sein Überleben braucht.
Dazu bedarf es keiner Verschwörung. Es genügt, wenn das Ergebnis eines Ablaufs denselben bestärkt. Eine solche positive Rückkopplung haben wir, wie oben erläutert, im Bildungswesen wie im gesamten marktwirtschaftlichen Treiben vorliegen, unabhängig vom Nutzen für die Gemeinschaft.

Es gilt zu erkennen, wie uns Geld unserer Fähigkeit zu überleben beraubt hat, wie es uns zu überwiegend unproduktiver und stupider Arbeit zwingt und uns Bildung von zweifelhaftem Nutzen aufnötigt. Wie es Ungleichheit und Spaltung schafft. Kein Element unseres Daseins, Fortpflanzung, Kunst, Glaube, Ernährung, Erholung etc. bleibt davon unberührt. Geld hat durch die mit ihm verbundenen, sich selbst verstärkenden Mechanismen fast den gesamten Globus erobert, aber das macht es nicht zu einem erfolgreichen Konzept. In der Tat funktioniert das Geldsystem für den weit überwiegenden Teil der Menschheit nicht. Geld vereinfacht den Handel – und erschafft dabei Probleme, die wir ohne die beiden nicht hätten. In wenigen Jahren wird es uns an einen Punkt geführt haben, an dem wir aller Errungenschaften wieder verlustig gehen, auf die “wir” (eine Minderheit, nicht die ganze Menschheit) so ungern verzichten.

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