Der Wert der Werte

Der Wert der Werte

Folgende Definitionen habe ich benutzt. Es mag andere oder umfassendere Begriffsbeschreibungen geben, aber das ist nicht Thema des Eintrags.

Ethik ist die Wissenschaft von den sittlichen Werten, Handlungen und Gesinnungen. Meist gleichbedeutend mit Moralphilosophie oder Sittenlehre und damit zusammenfallend mit Philosophie.

Moral = Sittenlehre = Ethik

Moralismus ist die Lehre, dass die Bejahung der Moral Ziel und Zweck des menschlichen Daseins sei.

Wert = Eigenschaft oder Charakter eines Gegenstands. Dieser wird zum Wertträger und lässt sich damit vergleichend einordnen.
Werte werden de facto wie Axiome behandelt, aber es handelt sich eigentlich um wandelbare Maßstäbe.

Axiome sind unbeweisbare, unteilbare, in sich einsichtige und unbestreitbare Grundsätze. Ableitungen aus verschiedenen Axiomen führen nicht zu Widersprüchen.

Wertphilosophie oder auch Axiologie beschäftigt sich mit dem Geltungsbereich von Werten.
Es gibt die Vorstellung absoluter, von Menschen unabhängigen Werten (Wertabsolutismus).
Und es gibt die eine philosophische Richtung, die Werten Geltung nur im Bereich menschlichen Wirkens zugesteht (Wertrelativismus). Zwischen und innerhalb dieser Denkrichtungen bestehen natürlich vielfältige Abstufungen und Unterscheidungen

In meiner Kindheit hatte ich eine Phase, in der ich mich jeder Form von Anstand und Sitte widersetzte. Der Wert gesitteten Benehmens zur Reduzierung von Reibereien und Schaffung einer gemeinsamen Basis stand dabei – aufgrund altersbedingt fehlender gedanklicher Konzepte – weniger zur Debatte, als die konkreten Ausdrucksformen. Es wollte mir nicht einleuchten, weshalb man sein Besteck auf bestimmte Weise anfassen musste, weshalb man bei Tisch nicht rülpsen durfte oder weshalb Kinder Erwachsene zuerst zu grüßen hatten, während jene die Ehrerbietung unerwidert lassen konnten. Ich hatte Sittlichkeit als Willkür erkannt, und niemand hatte mir eine andere Vorstellung davon vermitteln können.
Der hohe Wert einzelner Tugenden wie z.B. Treue verblieb dagegen zunächst unhinterfragt.

In meiner Jugend hatte ich eine Phase, in der ich Moral generell ablehnte, denn es fiel mir auf, dass moralische Regeln dazu benutzt wurden, Handlungen und Ziele zu rechtfertigen, für die es keine andere Grundlage zu geben schien. Wiederum hatte ich Moral als Willkür erkannt. Man konnte sie sich nach Belieben zusammenstoppeln, und nur der Grad der allgemeinen Akzeptanz ihrer Elemente verschaffte ihr Gültigkeit bzw. stempelte sie zur Un-Moral.
Dennoch hatte ich natürlich auch weiterhin Werte, die, wenn ich sie konsequent ernst nahm, bestimmte Formen des Handelns nach sich zogen. Was mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, war der Unterschied zwischen einer äußeren, übergestülpten Moral einerseits, die man zu befolgen hatte wie ein Gesetz, und andererseits einer inneren Moral, die ich unmöglich ablehnen konnte, denn sie resultierte aus Werten, die ich selbst als richtig erkannt hatte.
Die äußere Moral zu akzeptieren, und sei es nur zum Schein, macht eine Einzelperson zum Mitglied einer (Werte-) Gemeinschaft. Deinen persönlichen Erkenntnissen zu folgen macht dich in dem Grade inkompatibel zu deiner Umwelt, als es in deiner Umgebung an Mitmenschen mangelt, welche deine Werte teilen.

Als junger Erwachsener begann ich den Wert des Geldes in Frage zu stellen. Oder genauer: den Geldwert, den man einem Gegenstand oder einer Handlung zuwies. Offensichtlich war auch der nicht absolut. Preise und Löhne ändern sich ständig, als Reaktion auf Anpassungen im Preis- und Lohngefüge. Eine Katze, die sich in den Schwanz beißt. Komme ich mit meinem Lohn nicht zurecht, verlange ich mehr und bekomme vielleicht sogar mehr. In der Folge steigende Preise bringen mich wiederum in Bedrängnis. Wie kann es anders sein.
Manche nennen das, ausgehend von Gerechtigkeit als Wert, ungerecht. Aber man könnte es auch so sehen, dass ungleiche Verteilung einfach nur unpraktisch ist, wenn man den Erhalt von Menschenleben zum Ziel hat. Würdiges Menschenleben ist ja sogar ein in der Verfassung festgeschriebener Wert. Ihn zu akzeptieren führt zu Schmerzensgeldzahlung im Schadensfall und zur Entgeltung von beleidigter Würde. Wie aber bemisst man den Geldwert erlittener Schmach, eines verlorenen Glieds oder gar des Lebens? Materialwert 2 Euro? Wiederbeschaffungswert eines 18-Jährigen dank Unterhaltskosten 120.000 Euro?

Die Beschäftigung mit Geld(-wert) offenbart einen ganzen Sumpf unlogischer Denk- und Verhaltensweisen, sowie auf Dauer unhaltbarer Mechanismen. Das Ganze völlig unhinterfragt durch praktisch jedermann, den man darauf anspricht. Dabei ist mit der Einordnung des Geldwerts das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Es wird weitaus komplizierter, wenn man in den Bereich der Wertphilosophie vordringt. Was verleiht einem Wert überhaupt Geltung? Gibt es eine Orientierungsmarke, einen absoluten Wert?

Zusammen mit der äußeren Moral hinterfragte ich, soweit ich zurückdenken kann, also etwa dem vierten Lebensjahr, nach und nach Mechanismen des Zusammenlebens und kam zu der Auffassung, dass willkürliche Festlegungen allgegenwärtig sind. Und nicht nur das: Die festgelegten Wertideale und Verhaltensnormen dienen ganz offensichtlich weniger dem Gemeininteresse als dem Vorteil kleiner Gruppen. Wohl wunderte ich mich, dass die zahlenmäßige Mehrheit wenig Elan darin zeigte, den Zustand zu ändern und zu einer inneren Moral zu finden, sondern im Gegenteil auf die Rechtmäßigkeit gesellschaftlicher Normen pochte. Aber ich vermutete zum Einen Defekte meinerseits, die eine Anpassung verhinderten, und tippte zum Anderen auf die unrettbare Verdorbenheit des Menschen als Geschöpf, auf eine animalische Natur, die unsere Vorstellungen wie am Gummiband wieder in die Niederungen des Existenzkampfes zerrte, sobald wir in der Aufrechterhaltung unserer kulturellen Bemühungen für nur einen Augenblick nachließen.

Die Beschreibung der Auslöser meiner Irritation zeigt, wie sehr unser Denken von Wertvorstellungen und Wertmaßstäben abhängt. Wir schaffen mit ihnen Spaltungen zwischen uns und einer Umwelt, mit der wir eigentlich verschmolzen sind. Wir ziehen Grenzen, wo nahtlose Übergänge das Bild bestimmen. Wir identifizieren uns, in absteigender Intensität, mit unserer Familie, unserer Dorfgemeinschaft, unserer Region, dem Staat bzw. Volk, der Rasse und schließlich der Menschheit. Daher bewerten wir die Interessen, auch die Lebensinteressen, von Geschöpfen um so niedriger, je ferner sie uns stehen.

Leben war und ist in allen Kulturen das höchste Gut auf Erden. Ist Leben also die gesuchte Orientierungsmarke, der absolute Wert?
Wertet jeder Mensch das eigene Leben als höchstes Gut, dann haben wir sieben Milliarden verschiedene höchste Werte, noch bevor wir die das Lebensrecht anderer Geschöpfe anerkennen. Mindestens einer der beiden Bestandteile von „eigenes Leben“ muss überzählig sein. Entweder ist Leben ein Wert an sich, unabhänig wessen, oder das ganze Konstrukt ist wertlos, weil es bei mehreren gleichartigen Interessen kein universell oberstes geben kann. Im Konfliktfall heben sie sich gegenseitig auf.

Werte sind, zumindest so, wie wir sie täglich ansetzen, relativ. Das mögen liberale Geister in freier Erörterung anerkennen. In der Praxis ist sich dann aber trotzdem jeder selbst der Nächste und wird mit Absolutheit sein eigenes Recht gegen die Ansprüche Anderer verteidigen. Das lässt sich nicht nur im Einzelfall, sondern auch in Betrachtung der Gesamtheit feststellen, etwa dabei, wie wir als Gattung mit dem Leben allgemein umgehen.
Wir tun uns schwer mit der universellen Anerkennung des Lebens. Sowohl als Wert an sich, als auch trotz der Tatsache, dass uns seine Rolle bei der Erhaltung unseres eigenen Lebens bekannt ist.

Bakterien und Algen sind dabei so wichtig, wir sollten ihnen Altäre aufstellen. Ziehen wir ein Tötungsverbot in Erwägung?

Pflanzen, die die Energie des Sonnenlichts unmittelbar zu Nahrung sowie zu Nahrung unserer Nahrungstiere umwandeln, gehören mit zu den wichtigsten Geschöpfen dieses Planeten. Stehen sie unter unserem besonderen Schutz?

Erachten wir das aus Myriaden von Organismen entstandene Kalkgestein als wertvoller denn vulkanischen Basalt?

Viele Tierarten, von Würmern über Insekten und Reptilien bis hin zu Säugetieren (man achte auf die in der Aufzählung enthaltene Wertung) halten ein komplexes Ökosystem in Gang. Ihr „Wunsch“, als Individuen und Arten zu überleben ist unübersehbar. Respektieren wir dies?

Ratten, Pferde, Hunde, Delfine, Elefanten besitzen ein Gehirn, das sie nachweislich in hohem Grade lernfähig macht, zumindest in Ansätzen eine Vorstellung von sich selbst als Individuen ermöglicht und auf jeden Fall die Fähigkeit zu trauern, zu leiden und sich zu freuen verleiht. Hält es uns davon ab, sie ihrer Freiheit zu berauben und sie für unsere Zwecke auszuschlachten? Würden wir ein Menschenleben für ein Pferdeleben tauschen?

Schimpansen und andere Menschenaffen sind intelligent, sprachbegabt und ichbewusst. Sie benutzen Werkzeuge und zeigen soziale Fähigkeiten und Verhaltensmuster ähnlich unserer eigenen. Stellen wir sie unter den selben Schutz, den wir uns selbst angedeihen lassen? Haben sie ein Recht auf freie Entfaltung?

Menschen beantworten die Frage nach dem Wert eines bestimmten Lebewesens sehr unterschiedlich. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass sie ihn danach bemessen, welche Rolle das Geschöpf bei ihrer Selbsterhaltung spielt. Fleischesser machen einen Unterschied zwischen einer Katze und einem Rind, während Vegetarier je nach Motivation eine Linie zwischen Säugetieren und dem Rest, Wirbeltieren und dem Rest, zwischen Tieren und Pflanzen oder Mehrzellern und Einzellern ziehen. Kommerzielles Interesse kann die Grenze zwischen schützenswertem und unwertem Leben sogar so eng ziehen, dass sie auch ohne Not zwischen einem Individuum und dem Rest liegt: ultimativer Ausdruck unseres totalen Kriegs gegen die Umwelt.
Indem wir jeden einzelnen Quadratmeter der Erde für uns beanspruchen, systematisch die Nahrungsgrundlage unserer Rivalen zerstören und sie bis zur Ausrottung zu vernichten suchen, unterscheiden wir uns von allen anderen Lebewesen, denen wir eigene Wertvorstellungen absprechen. Da kann man mit reißenden Tigern und Wanderheuschrecken aufwarten, so lange man will: Der Absolutheitsanspruch, mit dem wir die Welt in Besitz nehmen – erobern – hat keine Parallele in der Natur. Er ist eine direkte Folge der Bewertung unseres Menschseins als Krone der Schöpfung.

Und das bringt mich zu der Frage, ob unsere Vorstellung vom „Wert“ der Dinge nicht die eigentliche Ursache für viele unserer Probleme ist. Wenn wir keine der gesamten Menschheit gemeinsamen Werte und Bewertungen finden können, nichts, das sich objektiv feststellen, logisch ableiten oder wenigstens erfühlen ließe, dann wäre das gesamte Konzept von „Wert“ eine ungeheure, unnötige, ja sogar hoch schädliche Verkomplizierung unseres Daseins. Es brächte uns in Konflikt mit uns selbst und mit unserer Umwelt, weil es eine extremistische Sicht auf eine unwertig beschaffene Wirklichkeit darstellen würde.

Den Konjunktiv kann ich mir eigentlich sparen, denn Schadverhalten ist ohne Zweifel feststellbar. Wir leben Moralismus, die Verehrung des Wertesystems, mit uns selbst als höchstem Gut darin. Daher betrachten wir uns als Selbstzweck, als „Wert an sich“. Es gibt hinsichtlich Körpermerkmalen und einzelner Überlebenstechniken schnellere, robustere, begabtere und wahrnehmungsempfindlichere Lebewesen als uns. Doch das einzige Merkmal, mit dem wir evolutionär die Nase vorn haben, das Gehirn, erfindet den Begriff „Wert“ und reißt sich bei diesem selbst gewundenen Zopf aus der Gemeinschaft des Lebens heraus und erhebt sich über selbige.

Nicht sogleich. Nein.
Aber ganz speziell unsere grade mal ein paar tausend Jahre alte Kultur des Anhäufens von Gütern und Vernichtens des ganzen Restes.
Unsere Kultur, die sich selbst von dem abspaltet, was sie als ihre natürliche Lebensgrundlage bezeichnet.
Unsere Kultur, die Konzepte von „Normalität“, „Harmonie“ und „Humanität“ erfindet und damit eingesteht, diese Ideale bisher nicht verwirklicht zu haben.
Unsere Kultur, die sich selbst Wert zuschreibt, während sonst keine Instanz des Universums das bestätigen möchte.

Anmerkung 2022: Ein paar Jahre älter, um ein paar Erfahrungen reicher und mit der Erkenntnis vom Naturrecht ausgestattet, fand die Suche nach wahrer Moralität ein gutes Fundament für weitere Erkundungen: „Von stinkenden Lilien und üppig belebten Seen: Über die Freiheit im wahren Sinne des Wortes

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