Walser & La Mettrie

Walser & La Mettrie

Der Augenblick der Liebe von Martin Walser war eine Bereicherung. Nicht nur mir endlich selbst ein Bild vom umstrittenen Autor gemacht haben zu können. Nicht nur einmal einen Roman gelesen zu haben, dessen spärliche Handlung eher symbolischer Natur ist, der dafür mit ausdifferenzierten Gedankengängen, feingeschliffener Sprache und ins Detail gehenden Gefühls- und Gedankenbeobachtungen glänzt. Die ersten paar Textseiten, eine trockene, auf den Punkt gebrachte Beschreibung einer Kommunikation der Stille,
 

„auf einer für eine Besucherin vor Höhen unhörbaren Frequenz. Die höchsten Töne sind die feinsten. Je weniger sie miteinander sprechen, desto besser verstehen sie einander. Das erklär mal einer Besucherin…
Wenn er der Besucherin sein und Annas einvernehmliches Nichtssagen erklären könnte, wüsste sie immer noch nicht, wie wichtig Anna für ihn wird, wenn sie dann einmal drauflosquatscht. Er sitzt, sie räumt auf, er kan nur sitzen, starren, sie aber redet, und das tut sie für ihn. Zustimmend schweigen, das kann er noch. Sie plappert bewusst, macht deutlich, dass sie jetzt nur plappert, damit demonstriert sie, man könne doch immer noch plappern, Quatsch reden. Es kann sein, sie versackt dann jäh. Dann wird es ziemlich still. Dann fängt er an. Er schafft nicht halb so viel Stimmung oder wenigstens Akustik wie sie. Und gibt auch gleich auf. Dann ist die Stille, die folgt, ein Ausdruck vollkommener Harmonie. Näher kann man einander nicht sein als in dieser wunderbaren Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens.“

Natürlich bäumt sich zunächst einmal alles in einem auf gegen dieses hörbare Ticken von Omas Wanduhr, gegen dieses scheinbare Ausgelebtsein, Ausgepumptsein, Sichnichtsmehrzusagenhaben. Ich glaube aber, es rührt daher, dass Walser diese Assoziation wünscht, dass er tatsächliche Verständnisinnigkeit ausklammert und auch die Erlösung des Nichtsprechenmüssens.
Jedenfalls konnte ich mich selten so mit einem literarischen Charakter identifizieren, wie mit Gottlieb Zürn. Wie gesagt weniger dessenwegen, was er anstellt, als um seiner Auffassung von seiner Position im Leben willen und seinem subjektiven Empfinden zu einzelnen Begebenheiten.
Ich hab’s mit tragikomischen Gestalten wie George Paxton oder eben Gottlieb, wenn Autoren wie James Morrow (So muss die Welt enden) und Martin Walser es schaffen, deren Beweggründe im Inneren ebenso wie ihre Verstrickung in äußere Zwänge plausibel darzustellen, ohne eine Karikatur wie Arthur Dent zu erzeugen. […]

Eigentlich ging es mir um ein Zitat aus o.g. Buch. Walser ließ besagten Herrn Zürn Überlegungen des französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie zusammenfassen, die den menschlichen Entscheidungsspielraum zum Thema hatten. La Mettrie ging dabei natürlich vom Kenntnisstand Mitte des 18.Jh. aus und – das war eher ungewöhnlich – explizit von seinem persönlichen Erfahrungsschatz, von Selbstbeobachtung.
Angesichts aktueller Ergebnisse der Hirnforschung, die den freien Willen (und damit die Verantwortung des Einzelnen für seine Handlungen) zunehmend in Frage stellen, ein interessanter Beitrag.

Da mir La Mettrie bisher gänzlich unbekannt war und ich keine Originaltexte gelesen habe, kann ich mich natürlich nicht dafür verbürgen, dass Walser dessen Thesen auch nur annähernd korrekt transportiert hat. Das ist im Grunde egal. Es würde mich jedoch interessieren, ob sie jemand, so wie sie da stehen, nachvollziehen mag, oder ob sie so etwas wie Abstoßung oder Ablehnung erzeugen.

„Dein durch La Mettrie geschärftes Thema: die Erziehung als Ausbildung zum Gefangenen.
Von Anfang an war kein Mensch und keine Institution daran interessiert, dich zu dir selbst kommen zu lassen. Die Erziehung als Zumutung. Aber dann hast du angefangen, deine Erzieher zu betrügen. Du hast mehr als eine Persönlichkeit entwickelt. Das tut jeder. Keiner ist nur das, was die Erziehung aus ihm machen wollte. Wieviele Persönlichkeiten einer dann ausbildet, hängt davon ab, wieviele er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht. Ein paar Berufspersönlichkeiten und ein paar Privatpersönlichkeiten sind es allemal.
Der Erfolg dieser Persönlichkeitsentwicklung hängt davon ab, wie sehr es dir gelingt, jede Persönlichkeit, wenn du sie brauchst, wenn sie also agiert, als deine einzige zu produzieren. Dazu musst du jedesmal selber glauben, das jetzt seist du ganz und gar. Dann wird dir das auch von anderen geglaubt. Dieser mozartische Kettenzerbrecher hat dich hingewiesen auf deine Gefangenschaft. Also, dem Befreier La Mettrie gewidmet: Du als der Gefangene. Von Anfang an.
Was auch immer du an Fluchten geplant und ausgeführt hast, du bist ausgebrochen als der Gefangene, und wo du hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert