Second Life, genau so sinnentleert wie das erste

Second Life, genau so sinnentleert wie das erste

Neugierig wie ich bin hab ich es ausprobiert. Man muss ja wissen, worüber die Leute reden.

Vom Konzept bin ich begeistert. Es funktioniert nämlich ziemlich ähnlich dem, was ich mir vorgestellt hatte: Viel Land, massig Erweiterungsmöglichkeiten, freie Gestaltung von Körpern und Objekten, keine festgelegten Ziele, keine Quests und Frondienste, kein Punktesammeln, keine Schlachten um des Geierns willen, Handel ganz nach Belieben, Gesellschaftssimulation frei Schnauze.

Die Praxis: Öde Landschaften, vollgestellt mit hässlichen Bürogebäuden im Skelettbauverfahren oder architekturfrei schwebende Bauklötzchen. Eingezäunte Bereiche wohin man schaut. Kaum ein Objekt ohne dezenten Hinweis auf Käufliches. Sex, Mode und Retortenmusik bestimmen das Bild. Überall reichlich orientierungslose Newbies. Die Alten sieht man außerhalb ihrer selbstgebastelten Konsumburgen gar nicht oder nur, wenn sie ihre Klamottensammlung vorstellen wollen. Flanieren durch Second Life fühlt sich an wie ein Spaziergang die Königstraße hinunter. Leeres, lautes, buntes Elend zwischen abweisenden Fassaden. Ein Ort, an dem du im Angesicht ganzer Schaufenster voll Sahnetorte verhungern kannst.
Ohne Geld bist du nichts und kannst du nichts und wirst hier auch nichts werden. Ganz wie im richtigen Leben. Hier leveln sie nicht, sie schuften, damit sie etwas verkaufen können, mit dem sie ihr zweites Leben finanzieren. Hatte ich wirklich erwartet, dass Menschen, die einer neuen, unbekannten Umgebung ausgesetzt werden, beginnen, sich anders zu verhalten?
Nicht wirklich. Zumal sich hier bereits einige große Firmen tummeln. Trotzdem ernüchternd, wie wenig spielerischen Trieb die Leute bei der Eroberung der virtuellen Welt entwickeln. Tristester Kapitalismus als erstes Gesellschaftssystem, das Fuß fasst.

Eigentlich sollte man eine große Bande von Historikern, Künstlern, Hippies, Glücksrittern, Rollenspielern und Soziologen zusammentrommeln, den halben Laden aufkaufen und einen Staat gründen, der alle das Fürchten lehrt.

Aber ok.. ich hab zum Glück ein erstes Leben 😀
Wie sieht es in SL wohl in 20 Jahren aus? Passiert da noch was?

Kommentar: Du bist der erste den ich kenne der das wirklich ausprobiert hat, was wahrscheinlich daran liegt das ich ziemlich misanthropisch veranlagt bin und dem entsprechend nicht so viele Leute kenne, obwohl ich mittlerweile zwei Kinder habe..

Mich verwundert es das du vom Konzept begeistert bist, ich dachte das Konzept wäre das RL in SL nach zu bauen, und das die Mehrheit der Leute dann ihre nicht erreichbaren RL Konsum Fantasien ausleben hat mich bisher davon abgehalten SL zu installieren.

Das einzige was mich wirklich daran interessiert, ist ob man da in SL dann TL spielen kann, so nach dem Motto “Rekursion ich komme” 😉

So unterschiedlich sind wir gar nicht. Je älter ich werde, desto weniger traue ich Menschen intelligentes Handeln zu. Manche nennen das Zynismus; ich nenne es Erfahrung. Irgendwie ist die Hoffnung aber noch nicht ganz gestorben. Sonst hätte es mich mit ihr schon längst dahingerafft.

Ich weiß nicht, ob du dich an die Diskussionen am Lagerfeuer in Kemet noch erinnern kannst (oder ob du sie überhaupt wahrgenommen hast). Dort ging es häufig um den Gegensatz zwischen Rollenspielern und Powergamern. Was mich störte, war (zwar auch) die Vernachlässigung situationsangepassten Verhaltens – eben Rollenspiel, in besonderem Maße aber einen Mangel an Verspieltheit und Experimentierfreude seitens der Majorität. Zudem ein Mangel an Rücksichtnahme und Miteinander. Letztlich war auch Kemet – wie praktisch alle MMORPGs – nur ein Abbild kapitalistischen Alltags mit seinem ewigen ich-ich-ich-Mantra, dem bedingungslosen Erfolgsstreben auf Kosten Anderer usw., nur dass der unkontrollierten Wucherung wegen fehlender Ordnungsgewalten kein Riegel vorgeschoben wurde.

In SL ist buchstäblich alles möglich. Der Phantasie sind durch die Spielphysik kaum Grenzen gesetzt und Entwicklungsziele sind nicht vorgegeben. Von daher ist SL auch kein Spiel, sondern eine Echtzeit-Gesellschaftssimulation ohne Schieberegler. Du kannst Rollen erfinden oder Variationen deines RL durchleben, allein bleiben oder Gruppen beitreten, schnöde glotzen + shoppen oder kreieren + verkaufen.
Das eben gefällt mir am Konzept, denn es lässt Freiheit für Entwicklungen oder gar Höhenflüge.

Wenn ich mir dann allerdings ansehe, was in zwei oder drei Jahren geschehen ist, versaut’s mir schon wieder die Lust. Ich bin zwar nicht großartig in die Tiefe gegengen, aber so etwas wie Institutionen sind mir beispielsweise bisher nicht aufgefallen. SL ist 3-Millionen-facher Individualismus pur. Die Sims als komplexes Multiplayer, wo man statt auf Credits, Sap oder Levels halt Jagd auf Lindendollar macht.
Um es kurz zu machen: Ich habe nicht von #MMORPGs zu viel erwartet, sondern von deren Nutzern.

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