Guten Morgen

Guten Morgen

Die Welt ist keine Kugel. Sie ist auch keine Scheibe. Eher gleicht sie einem Teller, einem rotierenden Ring, welcher nicht vom Weltenmeer umfangen wird, sondern es selbst umschließt.

Wer auf schlüpfrigen Pfaden dem Abgrund entlang wandert, der kann schon mal unverhofft über den Tellerrand rutschen. Tut er es auf der falschen Seite, so führt sein Weg direkt ins Herz des Universums, wo noch immer heißer Dampf die Ursuppe umwabert.
In dieser schwimme ich nun.
Das tote Auge eines Fisches glotzt mich starren Blickes an. Er hat mehr Schuppen als ich, fällt mir auf. Ich bin dankbar, denn das Schicksal hätte mich härter strafen können, wie man sieht.
Auch andere Augen beobachten mich. Nicht weniger tot, aber heiß und fettig. Sie sind mir unheimlich und ich weiche ihnen gewissenhaft aus, remple dabei jedoch eine dicke Nudel an (He! Können Sie nicht aufpassen?), in deren weicher Haut ich zunächst versinke, bevor sie mich zurückfedert.
Den Schwung nutzend entferne ich mich schnell von ihr, denn sie macht Anstalten, mir nachzusetzen, während ich mir noch überlege, woher ich sie kenne. Wie hieß sie doch gleich? Makkaroni? Tortellini? Irgendsowas… Jedenfalls schimpft sie laut in einer südländischen Sprache, die gut und gern Italienisch sein könnte.
Schließlich hänge ich die temperamentvolle Nudel ab. Keuchend gibt sie auf, geschlagen von einem beinahe-Nichtschwimmer.
Aber auch mich verlassen langsam alle Kräfte. Ich habe mich zu weit vom Rand entfernt. Über mir kreisen Vögel.
Ich mag Vögel. Und sie wiederum lieben mich.
Besonders die Geier, die da über mir ihre Runden ziehen.
Sie sind groß und ihre sechs Beine sind behaart. Man erkennt sie an den rötlich schillernden Augen und dem Saugrüssel, und ein solcher greift nach mir, als eins der kleineren Tiere im Tiefflug über mich hinwegfegt, dabei heftige Wellen auf der Oberfläche schlagend. Mit einem Ruck werde ich kurz aus der Suppe gehoben. Das Vieh hat wohl einen Fetzen Kleidung zu fassen bekommen, taumelt aber nun angesichts des unverhofften Zusatzgewichts und verliert sofort an Höhe. Zur Hälfte bin ich schon wieder eingetaucht, als der Geier sich überschlägt. Plötzlich seinem Griff entwunden versinkt ein geschundener Körper in der Brühe und taucht gerade noch rechtzeitig wieder auf, um das Tier kopfüber auf der Oberfläche aufklatschen zu sehen.
Neue, noch höhere Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen. Sie treiben mich weiter und weiter auf die offene Bouillon hinaus, fort vom rettenden Ufer. Tränen der Verzweiflung drücken ins Auge. Aber ich schlucke sie hinunter, bevor sie zu fließen beginnen, denn die Suppe ist auch ohne mein Zutun schon tief genug! Was bleibt mir andres übrig, als mich auf den Rücken zu drehen und toter Mann zu spielen?
Oder bin ich’s schon?

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