Sie kehrten wieder. Im tristen Grau eines trüben Morgens kamen sie aus der gleichen Richtung angeschlichen, wie all die Male zuvor. Aber er hatte nicht damit gerechnet, denn es war lange her, seit sie sich das letzte Mal an seine Fersen geheftet hatten.
Zunächst war es nur eine Ahnung von Gefahr, die ihn beim Blick auf den Birkenhain befiel, ein Tanz von Schatten mehr, als eine wahrnehmbare Bewegung. Doch dann lösten sich die Wölfe vom Hintergrund ab, einem Nebel so dicht – so tot und doch auf unheimliche Weise lebendig, wie ein Dunst verloren geglaubter Seelen, der Aufmarsch einer Armee unkörperlicher Kadaver.
Wie gelähmt blickte der Träumer den Wölfen entgegen, die sich ohne Hast zwischen den alten Bäumen des Friedhofs bewegten, für das Auge noch immer verschwommene Schemen, doch das rubinrote Glitzern, das höllische Funkeln vermeinte er schon wahrgenommen zu haben. Vielleicht sah er nur Erinnerungen. Aber das spielte keine Rolle. Er wusste was kommen würde. Er wusste, dass SIE kommen würden. Und er wusste auch, dass er besser den Blick abgewendet hätte, als er noch Zeit dazu gehabt hatte. Nun war es zu spät. Sie würden angreifen. Einer nach dem anderen. Oder auch alle gemeinsam. Sie machten sich ein grausames Spiel daraus, ihn gemächlich einzukreisen. Lautlos. Unabwendbar.
Er hätte sich nicht auf den Friedhof begeben sollen. Nicht so früh. Nicht in seinem Zustand. Alte Gewohnheiten waren schuld. Wer es nie erfahren hat, wird es wohl nicht glauben. Dass auch Schmerz, dass auch Furcht sich einen angestammten Platz im Alltag erschleichen können. Dass sie dich besuchen wie ein alter Freund, an immer die selbe Tür klopfen, nachdem sie stets den gleichen Weg durchs Dickicht genommen haben, bis sie ihre Spuren in deinem Leben hinterlassen, ausgetretene Wildwechsel, Trampelpfade durch den Nebel über einem uralten Totenacker.
Als der Träumer sich schließlich umdrehte, sein gehetzter Blick auf der Suche nach einem Ausweg auf die in unendlicher Ferne stehende Friedhofspforte fiel, da hatte ihn bereits alle Hoffnung verlassen. Der Pfad hinaus war verstellt. Und wäre er frei gewesen, so hätten die Wölfe ihn doch eingeholt.
Sie waren viele. Er nur Einer. Er hatte Freunde, ja. Sie befanden sich sogar ganz in der Nähe, direkt jenseits der Mauer. Sie riefen nach ihm. Doch der Nebel schluckte ihre Worte, so dass der Träumer sie nicht verstand, auch wenn er sich noch so sehr bemühte. So gerne wäre er bei ihnen gewesen, hätte sich in der Sicherheit ihrer Gegenwart gewiegt, hätte mit ihnen gesungen und lachend die bösen Geister vertrieben. Aber er konnte nicht. Der Nebel. Die Wölfe. Die Mauer mit der verschlossenen Pforte darin. Niemand sah seine Not.
Der Augenblick war gekommen, sich einem übermächtigen Feind zu stellen, Kraft aus dem letzten Funken Hoffnung zu schöpfen und zu kämpfen – oder sich niederringen und zerfleischen zu lassen.
Viele Stunden verstrichen, in denen Ausbruchsversuche des Träumers und Angriffe der Wölfe einander abwechselten. Es mochte Äonen dauern. Für den Träumer hätte es keinen Unterschied gemacht. Schwer blutend, ausgelaugt und beinahe gefühllos lag er am Boden, als die Sonne endlich den Dunst untoter Seelen durchdrungen und die Wölfe zurück in die Tiefen des Waldes getrieben hatte. Sie würden wiederkehren. Sie würden ihn eines Tages vielleicht sogar auf offenem Feld überraschen, um ihm weitere Wunden zuzufügen. Wunden die nie heilten. Die aufbrachen und schwärten, und die so lange bluteten, bis auch das letzte bisschen Leben versickert sein würde.
Aber bis dahin war ja noch etwas Zeit. Er würde versuchen sie zu nutzen.
